16. Die Ermordung der Vernunft
Der Antisemitismus des Nationalsozialismus wird heute unter
dem Terminus politische Religion
erfasst. Ich möchte dagegen vorschlagen, diesen Begriff durch den des politischen Wahns zu ersetzen, wobei
„politisch“ nichts anderes als „kollektiv“ heißt, den Rahmen eines einzelnen
Individuums sprengend. Aber wodurch wären kollektive Wahnvorstellungen möglich?
Wahn bedeutet per definitionem das der erklärenden Ratio Unzugängliche. Ich
möchte trotzdem eine Erklärung dieses Wahns zu versuchen, indem ich zeige, wie
Hitler stärker als jeder andere Staatsmann den abstrakten philosophischen
Begriff das Ich, der in der
Philosophie auch die Menschheit
bedeutet, nach der Anleitung der
germanischen Weltanschauung mit seinem Ego verband und damit abstrakte Sätze,
mit denen in Philosophie und Weltanschauung nur gedacht wird, auf fatale Weise
wörtlich nahm.
Ein Vorbild für
diese starke Bindung an den Begriff des Ichs gab es jedoch in Nietzsches
Philosophie des Übermenschen.
1. Ein merkwürdiges Paradox
Die Analyse zweier Romane von Hermann Löns hat gezeigt, wie
selbst ein unphilosophischer Kopf über die von H. St. Chamberlain entwickelte
germanische Weltanschauung fast unmerklich in den Bann von Kants Moral- bzw.
Religionsphilosophie geraten konnte: die Hybris des Germanen lag im Gefühl.
„Gefühl ist alles“, hat der Der Stürmer
verkündet. (Nr.8)
Aber der letzte Aufsatz
förderte noch etwas Verblüffendes zutage: Die Lektüre von Chamberlains
Hauptwerk Die Grundlagen des neunzehnten
Jahrhunderts hat zwar das Selbstwertgefühl eines „Germanen“ so stark
aufgebläht, dass er demokratische Tugenden wie die Fähigkeit zum Dialog etc.
vollends einbüßte und nur noch in einem autoritären System seine Existenzbedingung
finden konnte. Die „religiöse Revolution“ (Nr.12) führte unweigerlich in die Diktatur. Man vergleiche
den 5. Aufsatz auf dieser Website über Lagarde. (Suchwort lauter Herren)
Trotzdem wurde ein Chamberlain-Anhänger durch die
germanische Weltanschauung, von der er nur annahm, was ihm passte, nicht
unbedingt zum Antisemiten.1 Daraus ergibt sich eine scheinbar paradoxe Situation, die ich hier durch zwei
unverdächtige Zeugnisse nur kurz andeuten kann. Zunächst eine Mitteilung
Adornos:
Im Deutschland vor
Hitler wurde weniger offener Antisemitismus beobachtet als gegenwärtig hier bei
uns. (in den USA im Jahre 1945) 2
Franz Neumann konnte dem beipflichten:
1954 wiederholt Franz
Neumann ein Paradox, das im Kreis um Horkheimer wohl common sense gewesen ist:
„Schon 1942 habe ich – entgegen einer fast einhelligen Meinung – geschrieben:
Es ist die persönliche Überzeugung des Autors, paradox wie sie erscheinen mag,
dass das deutsche Volk das am wenigsten antisemitische ist.“ 3
Dass selbst eifrige Anhänger Hitlers der ersten Stunde u. U.
keine Antisemiten waren, hat Wolfgang Martynkewicz in einer eindrucksvollen
Fallstudie Salon Deutschland – Geist und
Macht 1900 – 1945 (Berlin 2009)
gezeigt. Es geht um den bekannten Verleger Hugo Bruckmann und dessen Frau Elsa,
geborene Fürstin Cantacuzène, die in München einen berühmten Salon unterhielt,
in dem Geistesgrößen wie Chamberlain, Klages, Rilke, George, Hoffmannsthal,
Thomas Mann u. a. verkehrten. Die
Fürstin wurde bald eine Förderin und glühende Verehrerin Hitlers, die
gleichwohl zu ihren jüdischen Freundin Gabrielle Oppenheimer stand. „Jüdisch“
war, wie der Autor darlegt, zumindest vor 1933 noch ein abstrakter Begriff, der
sich noch nicht mit konkreten Personen, also mit Juden aus Fleisch und Blut, verband.
Woher kam dann also Hitlers Antisemitismus, wenn nicht aus
dem deutschen Volk und nicht aus dem Christentum? Mit den aus dem Mittelalter
stammenden Resten von Antisemitismus hat er wenig zu tun; er kam aus einer
esoterischen Elite.
Wie wäre diese „Elite“ zu finden. In christlichen Kreisen werden
zwar immer noch antijüdische Vorurteile gepflegt, die weitgehend auf
Unkenntnissen beruhen, aber ein ausgeprägter Antisemitismus bis hin zur
bösartigen Ablehnung alles Jüdischen ist im christlichen Milieu gar nicht möglich,
weil sich jeder christliche Theologe damit den Ast absägen würde, auf dem er
sitzt.4 Also finden sich die radikalen Antisemiten vielleicht unter den Nichtchristen
oder gar Antichristen? Auch dies scheint nicht der Fall zu sein, denn Hermann
Löns hat, ähnlich wie der späte Nietzsche, offen gegen das Christentum
polemisiert, ohne dadurch zum Antisemiten zu werden.
Dann finden sich die rabiaten Antisemiten vielleicht in
einem Zwischenbereich, der etwa so zu bestimmen wäre: Diese Antisemiten
verteufeln in Wahrheit das Christentum, wagen es aber aus irgendwelchen Gründen
nicht, sich offen und ehrlich zu ihrem Hass auf die christliche Religion zu
bekennen. Stattdessen greifen sie die sehr viel schwächeren Juden an. Die
Gründe für ihre Unredlichkeit sind verschieden, doch sind diese Unehrlichen die
eigentlich Gefährlichen, weil irgendwann die Unwahrhaftigkeit dieser Position
mit logischer Konsequenz auf die Juden zurückfällt. Woher kam diese Unehrlichkeit? Aus der „denkerischen
Politik“ dieser antisemitischen Autoren, ein Ausdruck, der von Eugen Dühring
stammt, an dem ich dieses Phänomen erstmals beobachten konnte. Also gab es auch
politische, d.h. unredliche Denker? 2. Von der denkerischen
Politik zur Philosophie der Tat.
1) Kant
Wenn Kant in seiner Religionsschrift die „völlige Verlassung
des Judentums“ (Nr.9) fordert, meinte er
als religiöser Revolutionär die Beseitigung aller Theologie. Nur dann könnte
sich sein Grundgedanke der Autonomie des Willens in der Moral praktisch
bewähren. Warum hat er diese Zielsetzung nicht ehrlich offen gelegt? Dafür gibt
es eine einfache Erklärung: Kant sah sich nach dem Tode Friedrichs des Großen
im Jahre 1786 von einer Zensur bedrängt, die von Theologen, den eigentlichen
Stützen des absolutistischen Regimes in Preußen, ausgeübt wurde. Außerdem war
Kant im Gegensatz etwa zu Voltaire oder Diderot Beamter des Monarchen und hat
z.B. „als Ew. Königlichen Majestät getreuer Untertan“ brieflich seinen feierlichen
Verzicht auf alle künftigen Veröffentlichungen religiösen Inhalts erklärt. (Nr.14)
Außerdem betrieb Kant in seiner Religionsschrift schon
„denkerische Politik“, wollte er doch ein Reich oder eine Kirche über der
ganzen Menschheit gründen, und zwar auf der Grundlage des von ihm verkündeten
Sittengesetzes, das er mit der Person Jesu Christi verschmolz.5 Dadurch brach in seiner
Aufklärungsphilosophie plötzlich der religiöse Gegensatz zur jüdischen Religion
auf, den der Aufklärer eigentlich hatte überwinden wollen.
Kant wurde durch diesen zweifelhaften Schritt zum Schöpfer
der esoterischen Geheimsprache, die den Begriff Theologie durch Judentum
verschlüsselte, worauf Chamberlain, der sich „mit vollem Recht einen ‚Jünger
Kants’ nennen konnte“ (Vaihinger), aufbauen konnte. Spätestens als Martin
Niemöller gegen die Bewegung der Deutschen Christen den Pfarrernotbund gründete, war klar, dass diese „SA Christi“ mit
ihrem strikten Nein zum jüdischen Alten Testament aufs Herz der christlichen
Theologie zielte. Aber damals stellte wohl kaum jemand einen Bezug zu Kants
Religionsschrift her. Dass der weltweit hoch angesehene „größte deutsche
Philosoph“ den Juden in eben dieser Religionsschrift jeglichen Religionsglauben
absprach, weil sie angeblich nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubten,
hatte dank seiner unbestreitbaren Autorität weitreichende Konsequenzen.
Kant wurde jedoch vor allem aus zwei Gründen zum
unbestrittenen Führer von Präfaschisten wie Eugen Dühring oder Chamberlain:
Seine Aufspaltung der Welt in ein Ding an
sich, wozu der menschliche Wille gehöre, und in die dem Gesetz der
Kausalität unterworfene Welt der Erscheinungen
förderte die Entwicklung der Vorstellung eines allmächtigen menschlichen
Willens, die noch Hitlers Größenwahn beflügelte, z.B. auch seine feste
Entschlossenheit, Fakten der deutschen Geschichte nicht als gottgegeben oder
gegeben hinzunehmen, sondern ins Gegenteil zu verkehren, notfalls mit äußerster
Brutalität. Da traf es sich gut, dass ausgerechnet Kant mit seiner Lehre von
der Autonomie des Willens in der Moral, dass sich nämlich das Ich selbst das moralische Gesetz auferlege, den Weg in den
Immoralismus der germanischen Weltanschauung, aber auch deutscher Philosophen
wie Nietzsche und Jaspers vorbreitete.6 Kant war der eigentliche Führer der religiösen Revolution gegen (den jüdischen)
Gott.
Warum bekam diese philosophische Richtung gerade in
Deutschland eine große politische Bedeutung? 2) Chamberlain
H. Stewart Chamberlain war nie Mitglied einer christlichen
Kirche. Er täuschte aber in seinen Grundlagen
eine besondere Nähe zu den christlichen Werten vor, die er entschieden bekämpfte;
steht doch im Zentrum seiner Weltanschauung ein „arischer Christus“; außerdem
hat er eine kleine Broschüre mit dem Titel Worte
Christi herausgegeben. Chamberlain machte sich wie schon Kant in seiner
Religionsschrift das Charisma Christi und den militärisch verwertbaren
christlichen Opfermythos zunutze, um die „semitische“ Kirche nur umso
publikumswirksamer anzugreifen. Die Dogmen der christlichen Kirchen, die der
Aufklärer überwinden will, seien letztlich semitischen Ursprungs, was eine
dreiste Verdrehung darstellt, da die jüdische Religion das Gesetz hochhält,
aber keine Dogmen im christlichen Sinn kennt.7
Warum diese Polemik gegen das Judentum?
Dazu ein Bekenntnis aus den Grundlagen:
Nichts liegt mir
ferner, als die Einzelnen mit ihren Kirchen zu identifizieren. Unsere
heutigen Kirchen einen und trennen nach wesentlich äußerlichen Merkmalen.
Danach gibt der Autor seiner sicheren Hoffnung Ausdruck,
dass ein einziger
göttlicher Sturmwind genügen würde, um das verhängnisvolle Gaukelspiel
angeerbter Wahnvorstellung aus der Steinzeit hinwegzufegen, die Verblendungen
des verfallenen Mestizenimperiums wie Nebelhüllen zu zerstreuen und uns
Germanen alle – gerade in der Religion und durch die Religion – in Blutsbrüderschaft
zu einen. (647)
Der Kampf gegen den „intoleranten christlichen Dogmatismus“
hätte sich eigentlich vor allem gegen die katholische Kirche richten müssen.
Chamberlain neigt auch manchmal sehr stark dazu, Germanentum und
Protestantismus miteinander gleichzusetzen, was auch dem Selbstverständnis des
protestantischen Kaiserreichs entsprach. Dennoch betont er, zu seinem Glücke
mehrere gute und treue Freunde unter der katholischen Geistlichkeit gezählt
und bis zum heutigen Tage keinen verloren zu haben. (648)
Nun tendierten Aufklärungsphilosophen in ganz Europa zum
Antisemitismus, allen voran Voltaire, glaubten sie doch im Judentum die
schwächste Stelle der christlichen Religion gefunden zu haben, weil sie hier
auf Beifall der Christen selbst rechnen konnten. Also schlugen sie auf den
Juden ein und meinten die christliche Religion. Warum diese Entgleisung der
Aufklärer gerade in Deutschland Furore machte und warum sie sich mit
rassistischen Vorstellungen verband, wird aus der Konfessionsspaltung klar.
Demnach hätten also auch Chamberlain und Hitler eigentlich
nicht die Juden, sondern im Grunde nur die christliche Religion bekämpft, die
zu unterstützen sie vorgaben? Sicher hätte sie die winzige Minderheit der Juden
niemals interessiert, wenn sie nicht davon ausgegangen wären, dass jüdische
Werte auch die christliche Mehrheit geprägt hätten.
Dann hätten sich nicht nur die Deutschen während des Dritten
Reichs, sondern sogar die heute maßgebliche Richtung der
Antisemitismusforschung, die auf Eric Voegelin fußend auch Chamberlains und Hitlers
Antisemitismus aus der christlichen Religion ableitet, vom falschen
Zungenschlag der Antisemiten täuschen lassen? Obwohl diese Wissenschaftler
mehrere Jahrzehnte Zeit hatten und ihnen sämtliche Quellen zur Verfügung
standen, ist das Resultat ihrer Bemühungen nicht nur beschämend dürftig. Ihre
Theorie kann z.B. den Nationalismus dieser „politischen Religion“ nicht
erklären. Zynisch könnte man sogar sagen, wer wie Voegelin-Schüler
Claus-Ekkehard Bärsch8 den Holocaust auf die Religion zurückführt, ist selbst ein gefährlicher Antisemit.
3) Hitler
Welche Einstellung hatte Hitler zur Kirchenspaltung und zur
katholischen Kirche? Ich zitiere aus Mein
Kampf:
Konfessionelle
Zwietracht.
… Gerade der völkisch Eingestellte hätte die heiligste Verpflichtung,
jeder in seiner eigenen Konfession dafür
zu sorgen, dass man nicht nur immer äußerlich von Gottes Willen redet, sondern
auch tatsächlich Gottes Willen erfülle und Gottes Werk nicht schänden lasse.
Denn Gottes Wille gab den Menschen einst ihre Gestalt, ihr Wesen und ihre
Fähigkeiten. Wer sein Werk zerstört, sagt damit der Schöpfung des Herrn, dem
göttlichen Wollen, den Kampf an. Darum
sei jeder tätig, und zwar jeder, gefälligst, in seiner Konfession, und jeder
empfinde es als seine erste und heiligste Pflicht, Stellung gegen den zu
nehmen, der in seinem Wirken, durch Reden oder Handeln aus dem Rahmen seiner
eigenen Glaubensgemeinschaft heraustritt und in die andere hineinzustänkern
versucht. Denn das Bekämpfen von
Weseneigenheiten einer Konfession innerhalb unserer einmal vorhandenen
religiösen Spaltung führt in Deutschland zwangsläufig zu einem
Vernichtungskrieg zwischen beiden Konfessionen. Unsere Verhältnisse
gestatten hier gar keinen Vergleich etwa mit Frankreich oder Spanien oder gar
Italien. Man kann zum Beispiel in allen Ländern einen Kampf gegen den Klerikalismus
oder Ultramontanismus propagieren, ohne Gefahr zu laufen, dass bei diesem
Versuch das französische, spanische oder italienische Volk als solches
auseinander falle. Man darf dies aber nicht in Deutschland, da sich hier sicher
auch die Protestanten an einem solchen Beginnen beteiligen würden. Damit erhält
jedoch die Abwehr, die anderswo nur von Katholiken gegen Übergriffe politischer
Art ihrer eigenen Oberhirten stattfinden würde, sofort den Charakter eines
Angriffs von Protestantismus gegen Katholizismus. Was von Angehörigen der
eigenen Konfession, selbst wenn es ungerecht ist, immer noch ertragen wird, findet
augenblicklich schärfste Ablehnung von vornherein, sowie der Bekämpfer einer
anderen Glaubensgemeinschaft entstammt…9
Deutschland gilt auf Grund der privilegierten Stellung der
beiden Kirchen hierzulande als christliches Land. Aber der Schein trügt. Zwar
ist nicht zuletzt aus den von Hitler oben genannten Gründen Bismarcks
Kulturkampf gegen den Klerikalismus im Deutschen Reich auf halbem Wege stecken
geblieben. Aber im Untergrund staute sich unter deutschen Intellektuellen ein
starker Groll gegen beide Kirchen an, der sich in antisemitischen
Weltanschauungen Luft verschaffte. Dieser deutsche Widerspruch spiegelte sich
auch in Hitler. Kein deutscher Politiker hat sich in seinen öffentlichen
Proklamationen so gläubig, so tief religiös, ja so christlich gegeben wie
Hitler. Aber in seinen Tischgesprächen im
Führerhauptquartier und in seinen Unterhaltungen mit Goebbels finden wir
einen ganz anderen Hitler, einen unerbittlichen Verächter der christlichen
Religion. (Nr.4) Diese Haltung ist einem
modernen Leser kaum verständlich, weil der dominierende Einfluss der Kirchen
und der deutschen Konfessionsspaltung, dieses deutschen „Sonderfluchs“
(Mommsen), auf die deutsche Geschichte bis heute immer noch zu wenig beachtet
wird.
Hitler hat viel von Mussolini gelernt, aber dessen Anlehnung
an die katholische Kirche war in Deutschland angesichts der starken
protestantischen Eliten nicht möglich. Es konnte also hierzulande im Gegensatz
zu Italien oder Spanien zu keiner katholischen Variante des Faschismus kommen,
der zwar die Menschenrechte missachtete, sich aber trotzdem keiner Verbrechen
schuldig machte, die jeden bisher gekannten Rahmen sprengten. Mussolinis Schwarzhemden
haben Linke gejagt und getötet, aber niemand kam im faschistischen Italien von
sich aus, d.h. ohne Anregung und politischen Druck von Seiten Hitlerdeutschlands,
auf die Idee, unschuldige, völlig unpolitische Juden zu verfolgen. Einen
italienischen Juden, der sich als italienischer Patriot zu erkennen gab, ließ
man ihn in Ruhe.
Daran wird deutlich, dass der deutsche Nationalsozialismus
nicht ohne die germanische Weltanschauung, - von der Mussolini trotz oder wegen
seiner Begeisterung für Nietzsche überhaupt nichts hielt, - und nicht ohne die
Philosophie des deutschen Idealismus, aus der Chamberlains Rassenantisemitismus
hervorging, zu verstehen ist. Und ich bin zuversichtlich, dass sich diese aus
einer „typisch deutschen“ Gründlichkeit stammende Sicht, den Dingen auf den
Grund zu gehen, eines Tages auch durchsetzen wird.
Auch Hitler war an speziell deutsche Zwänge gebunden. So
konnte er, trotz seiner kirchenfeindlichen Einstellung, nicht offen gegen die
klerikale Partei des Zentrums und den politischen Katholizismus vorgehen, wie
er oben begründete; das hätte die unleidige Konfessionsspaltung nur vertieft.
Wo fand Hitler, wo fand schon Chamberlain das Vorbild einer
Volksgemeinschaft, die sich von den Konfessionen emanzipierte? In der deutschen
Philosophie, weniger bei Hegel, der sich zu stark auf die katholische Kirche
eingeschossen hatte, als bei Kant. Dieser war weit entfernt von jeglicher
Deutschtümelei, aber zur Fragen der Religionen und Konfessionen hatte er ein Programm,
das später auch deutsche Nationalisten überzeugte.
Aufgeklärte Katholiken und Protestanten werden also einander als
Glaubensbrüder ansehen können,
ohne sich doch zu vermengen, beide in der Erwartung, dass die Zeit, unter
Begünstigung der Regierung, nach und nach die Förmlichkeiten des Glaubens der
Würde ihres Zwecks, nämlich der Religion selbst, näher bringen (würde). Selbst in Ansehung der Juden ist dieses,
ohne die Träumerei einer allgemeinen Judenbekehrung möglich.10
Ziel ist also die Schaffung einer neuen Religion, einer
Vernunftreligion, die alle bestehenden Religionen und Konfessionen in sich
aufnehmen könnte. Gerade die so genannten völkischen Publizisten, die eine
religiöse Volksgemeinschaft der Deutschen schaffen wollten, beriefen sich auf
Kant. Dazu nur ein Beispiel:
Gerhard von Mutius
hat 1916 eine erbauliche Abhandlung mit dem Titel Die drei Reiche - Ein Versuch philosophischer Besinnung veröffentlicht. Das
Reich des Vaters stellte nach von Mutius das jüdische Volk des alten
Testaments dar, in einem „sozialen Zustand“, den er fast als ideal ansah. Das
nächste Zeitalter des Sohnes sei
durch die christlichen Kirchen und Konfessionen geprägt, wobei von Mutius
keiner eindeutig den Vorzug gibt. Das von ihm ersehnte kommende Reich des heiligen Geistes, das durch
Kants Philosophie erst möglich geworden sei, werde endlich die kirchliche
Dogmatik aufbrechen. Auch im politischen
Denken von Moeller van den Bruck, dessen Hauptwerk Das dritte Reich Hitlers Vision vom Reich aller Deutschen den Weg
bereitete, spielte Kant, nicht Hegel, eine entscheidende Rolle.
Nach Kants eigentlicher Intention sollten jedoch, wie oben
deutlich wird, auch die Juden in die neue Vernunftreligion aufgenommen werden.
Und vermutlich hat er bis zu seinem Tod an diesem Ziel festgehalten. Dass es
anders kam, war jedoch schon in Kants Philosophieren selbst angelegt, wie
gleich gezeigt wird.
Aber zurück zu Hitler, der die Konfessionsspaltung –
bezeichnenderweise in einer Geheimrede – als Erbübel der deutschen Geschichte
bezeichnete:
In der Zeit, in der an
sich durch Erfindungen besonders auf verkehrstechnischem Gebiet eine
Erschließung der Welt stattfand, in der man mit verhältnismäßig geringem
Bluteinsatz große Lebensräume erwerben konnte, ist Deutschland innerlich am meisten zerfallen, nicht nur in Stämme, sondern außerdem noch in
religiöse Gruppen.
Dieser religiöse
Konflikt, den wir fast 100 Jahre fanatisch durchkämpfen, den andere Völker
teils überhaupt nicht hatten, teils sehr schnell überwanden, hat uns in einer
Zeit beschäftigt, in der der größte Teil der übrigen Welt zur Verteilung reif
war und verteilt wurde. Außerdem kam, als aus religiösen Spannungen heraus die
letzen staatlichen großen Bindungen zerrissen, das Auflockern des Reichs in
unsere kleinen Dynastiegebilde und damit jene heillose staatspolitische und
damit auch machtmäßige Zersplitterung, die erst ein paar hundert Jahre später
langsam wieder überwunden wurde. 11
Diese Analyse ist einseitig und monokausal, weil die
Auflösung des Alten Reichs der Deutschen schon Jahrhunderte vor der Reformation
eingesetzt und die typisch deutsche Kirchenspaltung erst ermöglicht hatte. Dass
aber die Reformation, die Gegenreformation und vor allem der Dreißigjährige
Krieg die Deutschen im Rennen um die Weltherrschaft zurückgeworfen hatten, war
allgemeines Gedankengut fast aller deutscher Historiker und Geschichtsdenker im
Zeitalter des Nationalismus. Nur wer völlig frei von nationalen Gefühlen ist,
wird diese These einfach ignorieren oder als spekulativ ablehnen, widerlegen
kann sie wohl niemand. Was ist das Neue an Hitlers Weltanschauung?
H. St. Chamberlain war zwar Hitlers Lehrer – der einzige, den er in dieser
Funktion akzeptierte, - trotzdem schoss Hitler in einigen Punkten noch weit
über Chamberlains Weltanschauung hinaus. Während Chamberlain ein neues, antidemokratisches
und starkes Deutschland, wenn man einer seiner Äußerungen glauben kann, erst
nach der Arbeit von zwei Jahrhunderten erwartete,12 band Hitler diese Hoffnungen an seine Person. Man könnte sagen, der
Machtmensch Hitler sei im Gegensatz zu Chamberlain nicht bei der Betrachtung
der Geschichte stehen geblieben. Bezeichnend für sein Geschichtsverständnis
ist seine bereits in Mein Kampf dokumentierte
Absicht, selbst einschneidende historische Ereignisse, deren Auswirkungen
Jahrhunderte lang das Schicksal eines Volkes bestimmten, in kürzester Zeit
umzukehren; Philosophen hätten, so könnte man seine Haltung frei nach Marx
skizzieren, die Weltgeschichte nur interpretiert, es komme jetzt darauf
an, sie zu verändern. Entscheidend sei die Tat.
Unser deutsches Volkstum beruht
leider nicht mehr auf einem einheitlichen rassischen Kern... Im Gegenteil: die
blutsmäßigen Vergiftungen, die unseren Volkskörper, besonders seit dem Dreißigjährigen
Kriege, trafen, führten nicht nur zu einer Zersetzung unseres Blutes, sondern
auch zu einer solchen unserer Seele... Es wird keine neue Rasse mehr herausgekocht,
sondern die Rassebestandteile bleiben nebeneinander, mit dem Ergebnis,
dass besonders in kritischen Augenblicken, in denen sich sonst eine Herde
zu sammeln pflegt, das deutsche Volk nach allen Windrichtungen auseinanderläuft...
In dem Nebeneinander unserer unvermischt gebliebenen rassischen
Grundelemente verschiedenster Art liegt das begründet, was man bei uns mit
dem Wort Überindividualismus bezeichnet. In friedlichen Zeitläuften mag er
manchmal gute Dienste leisten, alles in allem genommen aber hat er uns um die
Weltherrschaft gebracht. (Mein Kampf,
436f.)
Was den historischen Rückblick angeht, wird hier das unverarbeitete
Trauma des Dreißigjährigen Krieges deutlich. Ähnlich wie Chamberlain führt
Hitler die Glaubensspaltung, die in seinem Weltbild die erste unwiderrufliche
Parteienbildung darstellt, auf einen „Rassenantagonismus“ zurück. Bezeichnend
ist jedoch der letzte Satz, der Überindividualismus habe uns um die Weltherrschaft
gebracht. Aus dem historisch möglicherweise richtigen Faktum, dass die
Deutschen durch ihre staatliche Zersplitterung auf der internationalen
Bühne zu kurz gekommen waren, zieht er den falschen Schluss, man könne durch
forcierte Einigkeit in langer Vorzeit Versäumtes nicht nur irgendwann
nachholen, sondern möglichst innerhalb von 30 Jahren, also noch zu seinen
Lebzeiten. Wohl kein Geschichts-“Denker“ – man zögert hier das Wort Denker überhaupt in Betracht zu ziehen –
hat einem so übersteigerten Voluntarismus gehuldigt wie Hitler. Dass der
menschliche Wille13 (eines Germanen) allmächtig ist, jeglicher Defaitismus (von la defaite, frz. die Niederlage) also
moralisch verwerflich sei, war das eigentliche Dogma seiner „Philosophie der
Tat“.
Bezeichnend ist eine rabiate Schlussfolgerung, die er aus
seinem Weltbild zog und die er nur einem kleinen Kreis offenbarte, in dem er
die Kirchen-Dogmen als den Hexenwahn unseres Jahrhunderts bezeichnete:
Der größte
Volksschaden sind unsere Pfarrer beider Konfessionen. Ich kann ihnen jetzt die
Antwort nicht geben, aber alles kommt in mein großes Notizbuch. Es wird der
Augenblick kommen, da ich mit ihnen abrechne ohne langes Federlesen. Ich werde
über juristische Zwirnsfäden nicht stolpern.14
Natürlich hat Hitler seine feste Absicht, die seiner Meinung
nach letzte und tiefste Ursache der deutschen Zersplitterung durch eine
Kirchenverfolgung für immer zu überwinden, sehr gut kaschiert. Die große
Abrechnung konnte nämlich erst nach dem Krieg erfolgen, wenn er auf die
christlichen Bindungen deutscher Offiziere und Soldaten keine Rücksicht mehr zu
nehmen brauchte. War also die Ausrottung der Juden eine Art von Ersatz für die
Kirchenverfolgung?
Doch da kommt ein gravierender Einwand ins Spiel:
Die These, Hitler habe eigentlich
das Christentum vernichten wollen, sei grober Unsinn; schließlich habe er Juden
umbringen lassen und nicht etwa Christen, zumindest nicht, weil sie Christen
waren; also liege eine Kontinuität zwischen den ersten Judenverfolgungen zur
Zeit der Kreuzzüge bis hin zum Holocaust auf der Hand.
Niemand wird diesen auf den ersten Blick überzeugenden
Einwand auf die leichte Schulter nehmen. Dennoch will ich ihn zu relativieren
versuchen, weil es in einer Philosophie der Tat, die nicht auf Argumente baut,
zu einer merkwürdigen Veränderung kommt. Die Aufklärer polemisierten gegen das
Judentum, um die christlichen Kirchen zu treffen. Das Ziel war, die Kirchen
herabzusetzen, als Mittel diente die antijüdische Polemik. In der Philosophie
der Tat kommt es jedoch zu einer Verschiebung, und zwar dergestalt, dass das
eigentliche Ziel in den Hintergrund tritt und stattdessen das untergeordnete
Mittel an die oberste Stelle des eigentlichen Ziels rückt. Eine höhere Macht
scheint zu verhindern, dass der Denker Herr seines Gedankens bleibt.
Im Folgenden will ich zeigen, dass trotz aller
vermeintlichen oder wirklichen Zwänge, also trotz der Konfessionsspaltung der
Antisemitismus des Nationalsozialismus durch eine freie Entscheidung „des Führers“ bedingt war: 3. Das innere System Was ist mit „höherer Macht“ zu verstehen? In Mein Kampf findet sich ein entlarvender
Text, der auch im 14. Aufsatz auf dieser Website zitiert wird, wo ein Bezug zu
Kants Philosophieren hergestellt wird.
Überhaupt besteht die
Kunst aller wahrhaft großen Volksführer zu allen Zeiten in erster Linie mit
darin, die Aufmerksamkeit eines Volkes nicht zu zersplittern, sondern immer auf
einen einzigen Gegner zu konzentrieren. Je einheitlicher dieser Einsatz des
Kampfwillen eines Volkes stattfindet, um so größer wird die magnetische
Anziehungskraft einer Bewegung sein, um so gewaltiger die Wucht des Stoßes. Es
gehört zur Genialität eines großen Führers, selbst auseinanderliegende Gegner
immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die
Erkenntnis verschiedener Feinde bei schwächlichen und unsicheren Charakteren
nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen Rechte führt. (Mein Kampf, S.129)
Als dieser eine und einzige Gegner, der auch auseinander
liegende Gegner wie die jüdisch-christliche Religion und den modernen
Materialismus, den Marxismus und den Kapitalismus vertrat, hat sich bald „der
Jude“ herausgestellt. Damit verfügte Hitler über ein esoterisches Wissen, das
dem normalen Verstandesmenschen und deshalb auch der Mehrheit der Deutschen
nicht zugänglich war. Wo der Verstandesmensch nur große Gegensätze sieht, wie
den zwischen Judentum und Christentum oder gar den zwischen Liberalismus,
Kapitalismus auf der einen und Sozialismus oder Marxismus auf der anderen
Seite, erkennt Hitler intuitiv eine Art von mystischem Zusammenhang: hinter all
diesen nur scheinbar gegensätzlichen Erscheinungen stecke nur eine einzige
Kraft: der ewige Jude. Es wäre jedoch verfehlt, aus obigem Text den Schluss zu
ziehen, Hitler habe in seinen Reden ständig in die antisemitische Kerbe gehauen
und die Deutschen gewissermaßen über antisemitische Vorurteile gewonnen. Die
meisten Deutschen hätten diese Mystik gar nicht verstanden. Als dezidierter
Antisemit gab sich Hitler nur in der Anfangsphase zu erkennen, als er ab 1928
immer größere Massen erreichte, fehlten antisemitische Stereotypen in seinen
Reden fast ganz.
Dennoch hat Hitler dem Antisemitismus nicht abgeschworen.
Wie ist also der Text über die Konzentration auf einen Gegner zu verstehen? Es
geht Hitler nicht um die Kommunikation mit seinen Zuhörern, sondern um ein Phänomen
des „inneren Systems“, um einen antireligiösen Ersatz für einen religiösen
Glauben. Und da führt uns folgendes Bekenntnis weiter:
Ich war vom schwächlichen
Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden. Nur einmal noch - es war das
letztemal - kamen mir in tiefster Beklommenheit ängstlich drückende Gedanken.
Als ich so durch lange Perioden menschlicher Geschichte das Wirken des
jüdischen Volkes forschend betrachtete, stieg mir plötzlich die bange Frage
auf, ob nicht doch vielleicht das unerforschliche Schicksal aus Gründen, die
uns armseligen Menschen unbekannt, den Endsieg dieses kleinen Volkes in ewig
unabänderlichem Beschlusse wünsche?
Sollte diesem Volke, das ewig nur
dieser Erde lebte, die Erde als Belohnung zugesprochen sein? (Mein Kampf, 69)
Hitler kannte also durchaus Zweifel an seiner „Mission“, „Zustände
tiefster Beklommenheit“, gewissermaßen Anfälle von Willensschwäche, und verband
diese merkwürdigerweise mit einer Betrachtung der jüdischen Geschichte. Es ist
kaum vorstellbar, dass seine Beteuerung „nur einmal noch – es war das letzte
Mal“ sachlich richtig ist. Die Zweifel werden wieder gekommen sein, sie mussten
eher noch an Kraft gewinnen, je mehr sich die militärische Lage der Deutschen
verschlimmerte. Und hinter den Selbstzweifeln verbirgt sich als gefährliche
Macht „der Jude“. Was wäre also zu tun? In Goebbels Tagebüchern findet sich ein
erschreckendes Bekenntnis aus der Zeit nach der Kapitulation von Stalingrad:
Die Judenfrage wird, wie der
Führer meint, in England von einer ausschlaggebenden Bedeutung werden. Wir
müssen nur unsere Propaganda klug und geschickt auf dieses Ziel einstellen,
dürfen nicht allzu dick in unserer Tendenz werden und müssen sie mehr in die
Nachrichten legen als in die Vorträge. Die Propaganda hat in diesem Stadium des
Krieges wieder eine außerordentliche Aufgabe zu bewältigen. Man darf dabei aber
nicht vergessen, dass das englische Publikum der Judenfrage gegenüber nicht so
aufgeschlossen ist wie das deutsche Volk... Die Juden sind sich in aller Welt
gleich... Man könnte hier die Frage aufwerfen, warum es in der Weltordnung
überhaupt Juden gibt. Es wäre dieselbe Frage wie die, warum es Kartoffelkäfer
gibt. Die Natur ist vom Gesetz des
Kampfes beherrscht. Immer wieder wird es parasitäre Erscheinungen geben, die
den Kampf beschleunigen und den Ausleseprozess zwischen den Starken und den
Schwachen intensivieren. Das Prinzip des Kampfes herrscht so auch im
menschlichen Nebeneinanderleben. Man muss die Gesetze des Kampfes nur kennen,
um sich darauf einstellen zu können. Der
intellektuelle Mensch hat der jüdischen Gefahr gegenüber nicht die natürlichen
Abwehrmittel, weil er wesentlich in seinem Instinkt gebrochen ist.
Infolgedessen sind Völker mit einem hohen Zivilisationsstand am ehesten und am
stärksten der Gefahr ausgesetzt. In der Natur handelt das Leben immer
gleich gegen den Parasitismus; im Dasein der Völker ist das nicht
ausschließlich der Fall. Daraus resultiert
eigentlich die jüdische Gefahr. Es bleibt also den modernen Völkern nichts
anderes übrig, als die Juden auszurotten. Sie werden sich mit allen
Mitteln gegen diesen allmählichen Vernichtungsprozess zur Wehr setzen. Eines
dieser Mittel ist der Krieg. Wir müssen uns also darüber klar sein, dass wir in
dieser Auseinandersetzung zwischen der arischen Menschheit und der jüdischen
Rasse noch sehr schwere Kämpfe zu bestehen haben, weil das Judentum es
verstanden hat, große Völkerschaften aus der arischen Rasse bewusst oder
unbewusst in seine Dienste zu zwingen. Jedenfalls
meint der Führer, dass das Judentum schon oft vor der absoluten Weltherrschaft
gestanden habe. Aber auch jedes Mal, wenn es nahe am Ziel war, erlebte es einen
Engelssturz, der es wieder auf die primitiven Anfänge seines rassischen Lebens
zurückwarf...trotzdem haben sie in dem Augenblick, in dem sie wieder in die
Städte hineingelassen wurden, wieder mit den alten Methoden angefangen. Das
liegt nicht in ihren Absichten, sondern in ihrer rassischen Veranlagung. Es
besteht deshalb auch nicht die Hoffnung, die Juden durch eine außerordentliche
Strafe wieder in den Kreis der gesitteten Menschheit zurückzuführen. Sie werden
eben ewig Juden bleiben, so wie wir ewig Mitglieder der arischen Menschheit
sind.
Der Jude hat auch als erster
die Lüge als Waffe in der Politik eingeführt. Der Urmensch hat, wie der Führer meint, die Lüge nicht gekannt. Der
Urmensch hat nur in primitiver Weise seine Gefühlsregungen durch Urlaute
kundgemacht. Von einer Absicht des Verschleierns konnte dabei überhaupt nicht
die Rede sein. Der Urmensch hatte gar nicht die Veranlassung, auf einen solchen
Gedanken zu kommen. Er hat, wenn er Schmerz empfand, Laute des Schmerzes, und
wenn er Freude empfand, Laute der Freude von sich gegeben. Je höher der Mensch
sich intellektuell entwickelte, desto mehr gewann er natürlich auch die
Fähigkeit, seine inneren Gedanken zu verschleiern und anderes zum Ausdruck zu
bringen, als was er empfand. Der Jude
als ein absolut intellektuelles Wesen hat am frühesten diese Kunst beherrschen
gelernt. Er kann deshalb nicht nur als der Träger, sondern auch als Erfinder
der Lüge unter den Menschen angesehen werden. Die Engländer handeln auf
Grund ihrer durchaus materialistischen Einstellung ähnlich wie die Juden. Sie
sind überhaupt das arische Volk, das die meisten jüdischen Wesenszüge angenommen
hat. Aber trotzdem wird das englische Volk der Judenfrage gegenüber ein großes
Erwachen erleben. Dieses Erwachen ist durch Propaganda von unserer Seite aus in
jeder Weise zu fördern und zu beschleunigen. ...
Das Weltjudentum steht nach
der festen Überzeugung des Führers vor einem geschichtlichen Sturz. Dieser
Sturz beansprucht natürlich eine gewisse Zeit. Wenn die Juden in vielen
Jahrhunderten sich bis zur heutigen Höhe empor „gearbeitet“ haben, so wird man
schon einige Jahrzehnte daran wenden müssen, sie aus ihrer Macht
herauszuwerfen. Das ist unsere geschichtliche Mission, die durch den Krieg
nicht aufgehalten, sondern nur beschleunigt werden kann. Das Weltjudentum glaubt vor einem Weltsieg zu stehen. Dieser Weltsieg
wird nicht kommen, sondern ein Weltsturz. Die Völker, die den Juden am ehesten erkannt haben und ihn am ehesten
bekämpfen, werden an seiner Stelle die Weltherrschaft antreten. (287-290) 15
Auffällig sind die apodiktischen Urteile über den Urmenschen und
sein Verhältnis zum intelligenten Menschen. Woher weiß Hitler eigentlich, dass
der Jude der erste Intelligenzler war? Streckenweise liest sich der Text vom
13.5.1943 wie eine Erläuterung zu Hitlers „tiefster Beklommenheit ängstlich
drückender Gedanken“, die nach der Kapitulation von Stalingrad nur verständlich
ist. Dabei findet sich eine noch merkwürdige Unklarheit.
Es heißt oben, „es bleibt also den modernen Völkern nichts anderes
übrig, als die Juden auszurotten.“ Warum „den modernen Völkern“? War die
Judenausrottung nicht das Werk der Deutschen? Vielleicht meint er unter
„modernen Völkern“ die Völker im Herrschaftsbereich deutscher Waffen? Aber es
geht um England. Die Judenfrage werde, wie der Führer meint, in England von
einer ausschlaggebenden Bedeutung werden. Und offenbar ist der Führer naiv
genug zu glauben, er bzw. Goebbels könnten mitten im totalen Krieg, wo jeder
Krieg führender Staat seine Bevölkerung gegen Feindpropaganda abschirmte,
ausgerechnet die unbesiegten Engländer durch eine geschickte Propaganda von der
Gefährlichkeit des Juden überzeugen.
Dahinter steckt eine seltsame Idee, die an anderer Stelle noch
deutlicher wird. In einer ebenfalls nach der Kapitulation von Stalingrad
erlassenen Proklamation an die Parteigenossen heißt es:
Dieser Kampf wird deshalb auch nicht, wie man beabsichtigt,
mit der Vernichtung der arischen Menschheit, sondern mit der Ausrottung des
Judentums in Europa sein Ende finden. Darüber hinaus aber wird die Gedankenwelt
unserer Bewegung selbst von unseren Feinden - dank diesem Kampf - Gemeingut
aller Völker werden. Staat um Staat werden, während sie im Kampf gegen uns
stehen, immer mehr gezwungen sein, nationalsozialistische Thesen zur Führung
des von ihnen provozierten Krieges anzuwenden, und damit wird sich auch die
Erkenntnis von dem fluchwürdigen verbrecherischen Wirken des Judentums gerade
durch diesen Krieg über alle Völker hinweg verbreiten. 16
In simple Bilder übersetzt heißt das folgendermaßen. „Wir Deutschen
haben eine großartige Waffe entwickelt, unseren mörderischen Antisemitismus.
Wir würden es begrüßen, wenn auch unsere Feinde, Staat um Staat diese Waffe
übernähmen, um den Kampf gegen uns zu intensivieren.“ Glaubt Hitler nach diesem
Text noch an den „Endsieg“? Eher nicht. Offenbar ist ihm etwas wichtiger
geworden als der Sieg gegen seine Feinde im Feld: die Ausrottung der Juden.
Dies ist ein Beleg für die oben angedeutete Verschiebung von Mittel und Zweck. 4. Die Bildung einer Wahnidee.
Knüpfen wir an die enge Verbindung von Judentum und Lüge an, die
offenbar so zur Grundüberzeugung Hitlers gehört, dass selbst Goebbels sie fast
ungläubig zur Kenntnis nahm. „Der Urmensch hat, wie der Führer meint, die Lüge
nicht gekannt.“ Und damit in Zusammenhang: „Der Jude als ein absolut
intellektuelles Wesen hat am frühesten diese Kunst (zu lügen) beherrschen
gelernt. Er kann deshalb nicht nur als der Träger, sondern auch als Erfinder
der Lüge unter den Menschen angesehen werden.“ (s. o.)
Damit sind wir zum Kern von Hitlers Weltanschauung vorgestoßen.
Ich gebe den Anfang einer frühen handschriftlich überlieferten
Aufzeichnung Hitlers wieder, indem ich eine neue Zeile durch Schrägstrich
andeute, Grammatikfehler behalte ich bei.
1) Lüge und Verleumdung / und unsere Partei.
Links - / reaktionär /
monarchistisch usw./ Bezahlt vom ...(unleserlich)
rechts / revolutionär
/ bolschewistisch / Bezahlt vom Juden (unleserlich) / Eine verlogene Zeit/
2. Lüge überall - und
Fälschung / - Schuld am Kriege - / - Kriegsgrund - / - Zusammenbruch - / - Die
Lüge der Revolution - / Lüge vom Freistaat. / - - vom Volksstaat - / - Lüge von
der Wirtschaftlichen Besserung - / Lüge der Friedensvertrages - Unterschrift -
/ Lüge von Spaa - / - Lüge des der
Volksregierung.) / Lüge über Lüge/
2.) Lüge der Presse - der Zeitung - usw. (der
politische Kampf) / - Wahlversprechen - /
3.) An was gingen wir zugrunde - / an / 2.
Riesenfälschungen und Lügen / 1. Umfälschung des Wortes „national“ in
patriotisch-Dynastisch / was heißt „national“ - / Völkisch / hat mit
„Standesinteresse“ nichts zu tun. / sollte über Standesinteressen stehen - / Pachtung des „Begriffs“ in einer
bestimmten / Standesgruppe - / Die Klasse / 2. Der soziale Gedanke
/ Sozialismus umgefälscht in „Marxismus“/
Sozialismus - Nationsgedanke - Internationalismus / Unterschied zwischen
Marxismus und Sozialismus. /
4) Ist demnach Lüge von uns unzertrennlich
/ Wer lügt. / Schopenhauer - der Jude - / Warum / DER PARASIT / Mimikry
/ - Der Jude dringt in die Völker - / Die Rasse findet seine
Rassenartexistenz als / Schmarotzer. / - Er bleibt ewig ein Volk - / -
und soll es nicht sein - / - kann es nicht sein - / Der Beginn der Lüge
/ - Er ist kein Jude mehr - / Außen als - Deutscher - / Religion als geheimes Band der Rasse - / -
Was ist des Juden Religion - ? / Ausdruck seiner Rassecharakterart / Moral -
Religion - Eigennutz / Gott - Gold / Älteste Profezeihung / Irdisches Gut - /
ewiges Reich - / .../ 17
Hier liegt das eigentliche Zentrum einer Wahnbildung, wobei
ich unter „Wahn“ die völlige Ausschaltung der Selbstreflexion verstehe. Jede
Position, die Hitlers Meinung widerspricht, ist verlogen. Auch wer Begriffe wie
national oder sozialistisch anders verwendet als Hitler, lügt. Damit stellt sich
Hitler gegen alle Welt. Außerdem verzichtet er auf jegliche Argumentation und
Überzeugungsarbeit. Lügen hätten Deutschland in den Untergang getrieben. Die
Welt wird von Lügen beherrscht.
Der vernünftige Weg aus der Isolierung, der Weg der
Selbstreflexion, sähe so aus:
„Vielleicht liegt meine Isolierung ja auch an mir.
Vielleicht täusche ich mich. Vielleicht ist wenigstens der eine oder andere
nicht so ganz verlogen, so dass ich mich ihm anschließen könnte.“ Aber damit
würde Hitler nicht nur seine Isolierung, sondern auch die Vorstellung seiner
„genialen“ Einmaligkeit und Einzigartigkeit aufgeben, die ihm u. a. auch vom
philosophischen Ich-Begriff nahe gelegt wird.
Stattdessen wählt er einen anderen Weg, der ihm Entlastung schafft: Er
konzentriert die Lügen aller Welt auf eine Persongruppe, auf die Juden. Warum?
Wozu? Damit wird zwar der Weg zur Selbstreflexion weiterhin verbaut: es bleibt
dabei, dass alle anderen lügen und nur Hitler sich nicht irren kann. Das
Feindbild wird ihn sogar wie ein gnädiger Schatten im grellen Sonnenlicht
weiterhin vor Selbsterkenntnis bewahren, als er jetzt alles Üble, alles
Schlimme, das ein kritischer Blick auf ihn entdecken könnte, in dieses
Feindbild projiziert. Aber die Isolierung von aller Welt hat ihren Schrecken
verloren. Vielleicht klingt es hart, wenn ich schon hier das Wort Vernichtung
ins Spiel bringe. Aber das Wort Lüge
hat eine moralische Bedeutung. Wer einen anderen Lügner nennt, will ihn nicht
mehr überzeugen, sondern vernichten, zunächst nur moralisch.18 Hier zeigt die Philosophie der Tat ihr wahres, bestialisches Gesicht.
Schauen wir genauer hin; wie schafft sich Hitler Entlastung,
ohne sein verkehrtes Weltbild zu korrigieren? Durch die Frage: „Wer hat die
Lüge aufgebracht?“ Die Antwort lautet: „Der Jude“. Denn er sei nach
Schopenhauer der „große Meister im Lügen“. 19
Dies wäre ein Akt „denkerischer Politik“. Vielleicht sollte man sogar von der
Entstehung einer subjektiven Religion sprechen. Denn Hitler setzt seine Sicht
der Welt dem Zustand einer geradezu paradiesischen Welt der Wahrheit gleich,
bevor die Weltmacht Lüge in sie drang. Wir können hier die Entstehung des
inneren Systems Hitlers verfolgen, die Projektion sämtlicher Feinde auf die
Juden.20 Denn woher kommt die erste Lüge? Vom Juden.21 Aber woher kommt die Vorstellung, der Jude habe als erster die Lüge
aufgebracht? 22 Sehen wir
genau hin:
DER PARASIT / Mimikry / - Der Jude dringt in die Völker - / Die
Rasse findet seine Rassenartexistenz als / Schmarotzer. / - Er bleibt
ewig ein Volk - / - und soll es nicht sein - / - kann es nicht sein - / Der
Beginn der Lüge / - Er ist kein Jude mehr - / Außen als - Deutscher –
Indem Kant dem Juden jeglichen Religionsglauben absprach,
hat er die Integration der Juden in unsere Nation verhindert. (Nr.13. Centralverein)
Aber es kommt, wie hier bereits angedeutet, noch schlimmer.
Auch Lagarde, dessen Deutsche
Schriften Hitler nachweislich gelesen hat,23 hat die Juden als fremdes Volk gesehen und ihnen gleichzeitig, jeglichen
Religionsglauben abgesprochen.24
Unmittelbar nach seinem antisemitischem Ausfall im Aufsatz Juden und Indogermanen, wo er sich zur
Behauptung versteigt: „Mit Trichinen und
Bazillen (er meint die Juden) wird nicht verhandelt, Trichinen und
Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich
vernichtet“, findet sich der Satz:
Denn seit das Alte
Testament dem Neuen Testamente Platz gemacht hat, und die christliche Kirche
entstanden ist, sind die Juden trotz des Papiermaché-Monotheismus, den sie zur
Schau tragen, Heiden. (Ausgewählte Schriften
S.209)
Die Juden sind eigentlich Heiden, tragen aber eine
Religiosität zur Schau, d.h. die täuschen, sie lügen. Hitler sprach oben vom Mimikri. So weit dürfte kein
„christlicher“ Antisemit gegangen sein, der nicht von Kants
Religionsphilosophie beeinflusst war. Der Jude ist also ein Lügner, und seine
Lüge beginnt, wenn er sich in die europäischen Nationen hinein begibt.
In einer Hitler-Rede vom 9.4.1929 findet sich eine weitere,
für Hitler bezeichnende Zuspitzung:
Ich darf hier eines
einfügen. Es ist falsch, wenn Menschen einer bestimmten Fähigkeit sich
verleiten lassen, mit anderen einer anderen bestimmten Fähigkeit auf deren
Gebiet in Konkurrenz zu treten. Sie müssen da verlieren. ... Es ist das gerade
so, wie wenn ich mich mit einem Juden in Dialektik üben würde, mit ihm auf
diesem Gebiet konkurrieren wollte. Ich weiß, ich würde unterliegen,
zwangsläufig unterliegen, weil der Mann nicht das spricht, was er denkt,
sondern, wenn er redet, seine Gedanken verhüllt, während ein Deutscher spricht,
was er denkt. Der andere spricht deutsch und denkt hebräisch. Ich weiß, dass er
hebräisch denkt, dass er mich übervorteilt. Das kann ich nicht...25
Woher weiß Hitler sozusagen a priori, dass der Jude lügt? Es wäre abwegig, hier nach schlechten
Erfahrungen in seiner Biographie zu suchen. Offenbar handelt es sich sogar um
eine wesentliche Lüge, wie die bereits zitierten Äußerungen Goebbels’ vom
13.Mai 1943 zeigen. Ich wiederhole: „Der Jude als ein absolut intellektuelles
Wesen hat am frühesten diese Kunst (zu lügen) beherrschen gelernt. Er kann
deshalb nicht nur als der Träger, sondern auch als der Erfinder der Lüge unter
den Menschen angesehen werden.“ Weshalb ist der Jude der „Erfinder der Lüge“?
In Mein Kampf
heißt es dazu:
Die besten Kenner aber dieser
Wahrheit über die Möglichkeit der Anwendung von Unwahrheit und Verleumdung
waren zu allen Zeiten die Juden; ist doch ihr ganzes Dasein schon auf einer
einzigen großen Lüge aufgebaut, nämlich der, dass es sich bei ihnen um eine
Religionsgemeinschaft handle, während
es sich um eine Rasse - und zwar um was für eine - dreht. (253)
Offenbar konnte sich Hitler in seiner Beschränktheit das
„Paradox“, dass ausgerechnet das Volk, dem wir unsere Religion verdanken, was
fast die ganze Menschheit anerkennt, nach Kant, Schopenhauer und Chamberlain –
den Gewährsmännern, denen Hitler in dieser Frage blind vertraute - niemals selbst eine Religion gehabt habe,
nur durch einen Gedankenschluss oder besser Kurzschluss erklären: Die Juden
sind „die großen Meister im Lügen“, sind „die Erfinder der Lüge“.
Also entstand Hitlers Wahn nicht aus dem Hass
mittelalterlicher Christen auf das Gottesmördervolk, sondern aus einer kühnen
These, die auf Kant zurückging und von Chamberlain weiter ausgestaltet wurde:
die Juden hätten keine Religion.
Aber wir müssen noch tiefer blicken. Was verbirgt sich
hinter unserem Ausdruck Beschränktheit? Schwer wiegt, dass Hitler in seiner
Polemik gegen die Juden die Dialektik und damit den Dialog, also die einzige
Methode, die ihn aus seiner inneren Isolierung hätte herausführen können, als
jüdisch und verlogen verteufelt. Wo sieht er die Wahrheit, die ihn aus seiner
Egozentrik erlöst?
Er schreibt in Mein Kampf über
seine Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, die angeblich in seiner
Wiener Zeit stattgefunden habe.
Dies alles hatte nun das eine Gute,
dass in eben dem Umfange, in dem mir die eigentlichen Träger oder wenigstens
Verbreiter der Sozialdemokratie ins Auge fielen, die Liebe zu meinem Volk wachsen
musste. Wer konnte auch bei der teuflischen Gewandtheit dieser Verführer das
unselige Opfer verfluchen? Wie schwer war es doch mir selber, der
dialektischen Verlogenheit dieser Rasse Herr zu werden!... Nein. Je mehr ich
den Juden kennenlernte, um so mehr musste ich dem Arbeiter verzeihen. (67)
Er findet einen inneren Kontakt zum Arbeiter, nicht durch
Dialoge, nicht durch Zuhören - dann hätte er ja einige ihrer Gedanken
übernehmen können – sondern nur im „Verzeihen“, also in einem schönen Gefühl,
das aber seinen Hass auf den Juden nur verstärkt.
Hatte man nach dem Text Konzentration
auf einen Gegner den Eindruck, Hitler habe dieses Feindbild ganz bewusst
geschaffen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, nämlich die schwankende und
zweifelnde Volksmasse in einen Kampf oder besser Krieg gegen
auseinanderliegende Gegner mitzureißen, scheint es jetzt mehr um etwas anderes
zu gehen: um seine eigenen Gefühle, um seine Flucht aus einer Verzweiflung über
seine Isolation. Außerdem habe ich im Gestörten
Weltbild einen Verdacht geäußert26 : Wenn ein „Staatsmann“ wie Hitler alle „Lügen“ oder „Übel“ dieser Welt auf die
Juden projizierte, nämlich die jüdisch-christliche Religion mit ihren Geboten und den modernen Materialismus der Aufklärer,
den Marxismus und Liberalismus bzw.
den Kapitalismus, dann hatte er von dieser „Konzentration auf einen Gegner“,
von diesem Akt seines unscharfen, unklaren Bewusstseins oder eines esoterischen,
der Masse der Verstandesmenschen nicht zugänglichen Wissens, dem jegliche Differenzierung
abhanden kam, - was man auch als Ausdruck einer großen Abstraktionskraft werten
könnte, - einen gewaltigen inneren Vorteil: Es scheint ihm dann möglich zu
sein, alle Übel dieser Welt fast mit einem Schlage zu beseitigen, weil er mit
dieser kleinen Minderheit der Juden schon fertig werden würde. Also überwindet
dieser Gedanke alle Anfälle von Willensschwäche, alle Zweifel und jegliche
Unsicherheit, nicht in den Zuhörern, die der Demagoge mit dieser kühnen These
meist verschonte, sondern vor allem und in erster Linie in Hitlers Psyche
selbst. Dieser Gedanke entfachte große kriminelle Energien, indem er ein bloßes
Gefühl von Macht und Übermacht erzeugte, das zu den höchsten Zielen greifen
ließ. Hitler „überzeugte“ durch seine Energie, durch seine wilde
Entschlossenheit, nicht durch Argumente. 27
Er riss seine Anhänger mit. Ein solch hehres Ziel wäre dann nichts weniger als
die militärische Welteroberung und erst danach, nach einem siegreich beendeten
Krieg gegen alle seine Feinde, wenn keine Rücksicht mehr auf die christlichen
Bindungen seiner Offiziere und Soldaten zu nehmen wäre, der endgültige Triumph
über die christlichen Konfessionen, um Deutschland für immer von seiner inneren
Zerrissenheit zu befreien.
Aber wir spüren selbst, dass der Diktator in der Hitze des
Kampfes bzw. Krieges die Herrschaft über seinen Gedanken verlieren könnte, so
dass er zum Getriebenen würde, zum Opfer seines eigenen Denkens. Aus der
„genialen“ Idee könnte im Zustand der Schwäche oder angesichts der Übermacht
der Feinde, für alle neutralen Beobachter sichtbar, eine manifeste Wahnidee
werden, in der Mittel und Zweck vertauscht sind. Der Entschluss zur
systematischen Judenverfolgung wurde erst Ende 1941 gefasst, als der geplante
Blitzkrieg gegen die Sowjetunion gescheitert war und sich bereits die
Niederlage der deutschen Armeen abzeichnete.28 Der Antisemitismus war ursprünglich nur ein Mittel zur „Macht“, genauer zur Aufblähung
des Selbstwertgefühls. Aber als die Weltherrschaft in immer größere Fernen
glitt, muss eine Verschiebung stattgefunden haben. Der Kampf gegen die Juden,
der ursprünglich nur ein Mittel zu Höherem war, avancierte, wie aus Hitler politischem Testament 29 hervorgeht, zum „eigentlichen“ Ziel, als habe die nationalsozialistische
Bewegung von Anfang an nichts anderes als die physische Vernichtung der Juden
im Visier gehabt. Daher die kaum verständliche Hektik, mit der noch kurz vor
dem Zusammenbruch die Tötungsmaschine in Gang gehalten wurde.
Man vergleiche dazu die
Analyse von Claus-Ekkehard Bärsch in Die
politische Religion des Nationalsozialismus:
Weil Hitler glaubte, in einer Spezialbeziehung zum
allmächtigen Schöpfer und Herrn der Vorsehung zu stehen, hat die Vernichtung
der Juden den Charakter eines Sakrifiziums, einer sakralen Handlung. Diese Art
der Religiosität hat eine magische Komponente, insofern der Magier glaubt,
durch eigenes Tun überirdische Kräfte zum Zwecke der Beeinflussung irdischer
Kausalverläufe manipulieren zu können. Diese magische Komponente hat dieselbe
Struktur wie der infantile Alltagsglaube, durch Gebete den Willen des lieben
Gottes beeinflussen zu können. Meine These besagt, dass diese Form magischer
Religiosität eine der Bedingungen für den Beschluss des Massenmords an den
Juden darstellt... Mit der Vernichtung der Juden wollte Hitler den Willen des
Allmächtigen ausführen und seine Gunst bewirken... (S.380f.)
Hier schlägt das
Bedürfnis des modernen Intellektuellen, eine moralische Katastrophe auf die
Religion und den Allmächtigen abzuwälzen, eine Kapriole. Hitler hatte keine
Bindung an einen allmächtigen Gott, er fühlte sich selbst als allmächtiger
Gott, oder sagen wir besser: als Übermensch. Und darin folgte er der deutschen
idealistischen Philosophie in ihrer letzten hybriden Vollendung durch
Nietzsche. Wie hängt also die gedankliche Verschiebung vom Mittel zum Ziel oder
Zweck mit der Vorstellung zusammen, ein Übermensch zu sein?
Diese Verschiebung hat einen weiteren, kaum
nachvollziehbaren Widerspruch zur Folge. Die Judenvernichtung wurde mit dem
Argument verteidigt: Die Juden hätten den Weltkrieg ausgelöst. Denn in Hitlers
politischem Testament vom April 1945 heißt es:
Es ist unwahr, dass
ich oder irgendjemand anderer in Deutschland den Krieg im Jahre 1939 gewollt
haben. Er wurde gewollt und angestiftet ausschließlich von jenen
internationalen Staatsmännern, die entweder jüdischer Herkunft waren oder für
jüdische Interessen arbeiteten...30
Welches Bild hatte Hitler vom Juden? Wie wäre das Feindbild
Jude zu bestimmen? War der Jude der eingefleischte Pazifist, gegen den der
Nationalsozialist seine barbarischen Instinkte aktivieren musste, oder hat 1939
nicht Hitler, sondern „der Jude“ den zweiten Weltkrieg ausgelöst. Pazifist oder
Kriegstreiber? Der Jude konnte nicht beides sein. Hat Hitler zuletzt einmal
schlicht und einfach gelogen?
5. Eine
philosophisch-psychologische Erklärung der Widersprüche. Alle diese Thesen bleiben noch im Vagen schweben, solange
ein entscheidender Punkt fehlt. Bisher ist noch nicht klar, warum die Gegenmacht
gegen Hitlers Willen „vom Juden“ gebildet wurde. Dass ein Satz in Chamberlains Grundlagen steht, erklärt noch nicht,
warum gerade er Hitler elektrisierte. Denn, wie eingangs festgestellt, wurde
nicht jeder Leser Chamberlains zum Antisemiten.
Oben wurde gesagt, die germanische Weltanschauung habe aus
Kants Morallehre die These entwickelt, der Wille des Menschen, bzw. auf Grund
der Tatsache, dass Kants Philosophieren auf der großen Abstraktionskraft der
deutschen Sprache beruhe (das Ich =
die Menschheit), der Wille des Germanen, also des Deutschen sei allmächtig. So
wurde im 14. Aufsatz ein Abschnitt aus einer Schrift Kants zitiert:
Man kann nicht satt
werden, sein Augenmerk darauf zu richten und in sich selbst eine Macht zu
bewundern, die keiner Macht der Natur weicht...
Man wird mir entgegenhalten, Ähnliches gebe es auch in der
Stoa, bei Seneca, ohne antisemitische Konsequenzen. Aber ich möchte dazu auf
mein Gegenargument im selben Aufsatz verweisen. (Suchwort:
Seneca)
Was Kant angeht, fehlt ein wichtiger Zusatz: Diese Macht,
die wir in uns bewundern sollen, weil sie keiner Macht der Natur weicht, ist
nicht einfach der Wille des Menschen, sondern der gute Wille, der moralische
Wille. Nur der gute, der moralisch gute Wille erhebt uns in den Rang einer
Gottheit. (Siehe Kant-Text in Nr. 1.).
Aber was ist „gut“? In seiner berühmten Sportpalastrede
bezeichnet Goebbels als höchste Tugend des deutschen Volkes „einen wilden und
entschlossenen Willen, die Gefahr zu brechen und zu bannen, eine Stärke des Charakters
(zu haben), die alle Hindernisse überwindet“. (Nr.1)
Der Ausdruck „wilder Wille“ bedeutet moralisch gesehen
nichts Gutes. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie jemand zur Vorstellung
komme, sein Wille, seine Absicht sei moralisch gut. Da findet im Innern jedes
Menschen eine Art von Streitgespräch statt, es meldet sich auch die Stimme des
Gewissens. Hitler hat offenbar die Gegenstimme gegen seine eigentliche Intention
mit dem Juden verbunden, der damit nicht nur die Intellektualität vertritt, sondern
auch das moralisch Gute. In seinem Weltbild ist der Jude überzeugter Pazifist.
Zugleich gilt aber auch das Gegenteil: Der Jude erscheint als der Kriegstreiber
und der eigentliche Verbrecher. So fordert Hitler schon in seinen Ausführungen
vom 13.5.1943: „Die jüdischen Verbrechen müssen rücksichtslos angeprangert
werden“. (290) Die Ausrottung wird damit
begründet, dass auch nicht die Hoffnung bestehe, die Juden durch eine
außerordentliche Strafe in den Kreis der gesitteten Menschheit zurückzuführen.
(s. o.)
Zur Klärung dieses Widerspruchs möchte ich auf den 14.
Aufsatz verweisen, wo von einem Reflexionskampf
mit dem Juden die Rede ist. Dieser Reflexionskampf bedeutet, dass das Gute
verteufelt wird, also die eigene unmoralische Position als moralisch gut
erscheint. Doch was ist „gut“? Der Krieg wird als gut empfunden, solange der
Sieg winkt. Auf der Verliererstraße erscheint er natürlich als Übel. Dann ist
auch Kriegstreiberei ein Verbrechen. Wenn Hitler die Juden 1945 „Kriegstreiber“
nennt, ist es, als könne er die Verantwortung für seine eigene Tat nicht mehr
übernehmen und verfolge andere als die eigentlich Schuldigen am Krieg. Man vergleiche dazu auch den 3. Aufsatz, in
dem es um Verantwortung geht.
Versuchen wir eine philosophisch-psychologische Erklärung
dieses beängstigenden Phänomens.
Jemand hält sich für den Allerhöchsten, für einen
Übermenschen. Falls er daran zweifelt, sucht er sich einen „Untermenschen“, dem
er sich überlegen fühlen kann. Ein konkretes Beispiel: Hitler spürt, dass er
einem Dialektiker, also einem Gegner, der disputieren kann, nicht gewachsen
ist. Dieser Dialektiker ist nicht unbedingt ein Jude. Er wird aber von Hitler
sofort zum Juden gemacht. Warum? Der Übermensch Hitler will sich seine
Unterlegenheit nicht eingestehen, sondern schwingt sich sofort in eine
Position, von der aus er den Dialektiker als Juden zutiefst verachten kann.31 Der Jude sei der Erzlügner, der Erfinder der Lüge, während Hitler, immer die
lautere Wahrheit sage.
Doch haben wir nicht eben Hitler bei einer großen Lüge
ertappt, nämlich die Juden hätten den Weltkrieg ausgelöst? Aber vielleicht will
er selbst sein früheres Sinnen und Trachten, als er zielbewusst auf einen Krieg
hinarbeitete, als Scheiternder nicht mehr wahrhaben, so dass er die
Orientierung verliert und seine Identität zerbricht? In Nietzsches
Philosophieren kommt es zur „Verabsolutierung des Augenblicks“. Es gibt kein
Ich, wenn das Ich sich als das absolut Höchste setzt.32
Dazu ein berühmter Nietzsche-Text:
Der tolle Mensch
sprang mitten unter sie (die Menschen auf
dem Markt) und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er,
„ich will es euch sagen! Wir haben ihn
getötet – ihr und ich! Wir alle sind Mörder! Aber wie haben wir dies
gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um
den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir die Erde von ihrer
Sonne losketteten? Wo bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von
allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts,
nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie
durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht
kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? ....33
Bilder wie „Losketten von der Sonne“, „Austrinken des Meeres
und „Wegwischen des Horizontes“ bedeuten, dass der tolle Mensch sich an keiner
Realität mehr orientieren will, weder am Horizont, an der waagerechten Linie
der Meeresoberfläche, noch am Stand der Sonne. Das Austrinken des Meeres macht
klar, wohin die Realität verschwunden ist. Der tolle Mensch hat sich die
Realität einverleibt, er hat Gott getötet, er ist der „Mörder Gottes“, womit er
den Zeugen beseitigt hat.34 Im Zarathustra heißt es dazu:
Aber dass ich euch
ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn
es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter.
Wenn es also keine Götter gibt, was gibt es dann?
Dazu heißt es im selben Abschnitt:
Einst sagte man Gott,
wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehre ich euch sagen: Übermensch.35
Wenn aber Nietzsche-Zarathustra selbst der Gott ist, bzw.
der Übermensch? Dann gibt es keine Wahrheit mehr, dann taucht dieser „Gott“ in
eine Wahnwelt ein, in die Umnachtung. Der tolle Mensch fühlt sich als Sonne,
als Gott und treibt ohne Orientierung durch das unendliche All.
Wenn die Philosophie des Ichs das Selbstwertgefühl der
Persönlichkeit immer mehr aufbläht, endet dieser „Herrenmensch“ in einer
Diktatur. Wenn dieser Philosoph zudem in einem Reflexionskampf „den Juden“
moralisch vernichten will, sagen wir besser: „den jüdischen Gott“ oder noch
besser: „Gott“ durch sich selbst ersetzen will, erscheint dies als unerhörte
Aufwertung des Ichs und der Persönlichkeit. In Wahrheit zerstört dieser Denker
damit sein eigenes Ich. Die Vernichtung der Moral ist zugleich die Vernichtung
des Realitätsprinzips und die Auflösung des Ichs in zwei einander feindliche
Teile.
Aus Chamberlains Grundlagen
wären dazu zwei Sätze anzuführen:
Unmittelbar
überzeugend wie nichts anderes ist der Besitz von „Rasse“ im eigenen Bewusstsein.
Wer einer ausgesprochenen, reinen Rasse angehört, empfindet es täglich. (271f.)
Und weiter:
Nur durch irgendeine
unerforschliche, prästabilierte Harmonie läuft er (der Jude) mehr oder weniger
parallel nebenher, doch ohne je zu begreifen, um was es sich in Wirklichkeit
handelt.36
Die Rassenzugehörigkeit wird gefühlt. Die Zugehörigkeit zu
einer überlegenen Rasse erweist sich in einem ekstatischen Hochgefühl.
Das letzte Kapitel der Grundlagen
des neunzehnten Jahrhunderts ist der Kunst gewidmet. Die höchste aller
Künste sei die Musik, die einzige Kunst, die unmittelbar Hochgefühle erzeugen
könne.
Die Tonkunst ist
nämlich (als einzige Kunst unter allen Künsten) eine nicht allegorische Kunst,
also die reinste, die am vollkommensten „künstlerische“ Kunst, diejenige, in
welcher der Mensch einem absoluten Schöpfer am nächsten kommt; darum ist auch
ihre Wirkung eine unmittelbare: sie wandelt den Zuhörer zu einem „Mitschöpfer“
um; bei der Aufnahme musikalischer Eindrücke ist jeder Mensch Genie. (980)
Zur „reinsten Rasse“ gehört die „reinste Kunst“. Chamberlain
verwandelt sich durch bloßes Hören von Wagner-Musik in ein Genie. Natürlich
versäumt dieser leidenschaftliche Wagnerianer nicht darauf hinzuweisen, dass die
deutsche Musik die höchste Vollendung der Musik darstelle, vergleichbar nur mit
der abstrakten deutschen Philosophie, welche die kühne Gleichung Das Ich = die Menschheit erlaubte, die
ihrerseits die stärksten Gefühle erzeugen kann, wie gleich gezeigt wird.
Während der Maler an Motive gebunden ist, die er in der Natur sieht, und der
Dichter von der nicht immer wohlklingenden Sprache der Menschen abhängig ist,
kommt nur der Tonsetzer einem absoluten Schöpfer am nächsten; nur er allein
kann sich dem (jüdischen) Schöpfer des Himmels und der Erde gleichrangig, ja
überlegen fühlen, wenn man bedenkt wie viel Hässliches und Böses Gottes
Schöpfung enthält.
Die euphorischen Hochgefühle des musikbegeisterten
Künstlerphilosophen Nietzsche werden noch immer falsch verstanden.
Da heißt es im
Nietzsche-Wörterbuch37 unter IV.3 Augenblick/ Moment der
Einsicht und Selbsterkenntnis:
Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster
Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen großen Mittag, wo
sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und
der Priester heraustritt. (Nr.
69)
Geisteswissenschaft
wird heute meist mit dem Register oder der Suchfunktion des Computers gemacht,
so dass das Nachdenken überflüssig erscheint. Wer ein bisschen kritisch ist, müsste
die Problematik der Wortverbindung Selbstbesinnung
der Menschheit erkennen. Hier wirkt die Formel Das Ich = die Menschheit. Denn ob sich die Menschheit jemals selbst
besinnen wird, ist mehr als fraglich. Jedenfalls wäre eine solche
Selbstbesinnung ein langer und mühevoller Aufklärungsprozess. Aber hier wird
von einem Augenblick höchster
Selbstbesinnung gesprochen. Wenn dem Philosophen wirklich Selbstbesinnung
zuteil würde, müsste sie etwas länger vorhalten, als nur einen Augenblick. Wir
sehen, wie das Ich sich auflöst. Der Text verrät keine Selbstbesinnung des
Autors, sondern eher ein gesteigertes Selbstbewusstsein, das an wenige, schnell
vergängliche Momente gebunden ist. Aber was hat dieses Hochgefühl mit dem Juden
zu tun?
Dazu ein Nietzschetext
aus dem Nachlass.
Zum Plan.
Wodurch ist das
Bedürfnis nach einem festen Halt so
groß geworden? Weil wir angelehrt worden sind, uns zu misstrauen: d.h. weil wir keine Leidenschaft mehr haben
dürfen, ohne schlechtes Gewissen! Durch diese Verlästerung unseres Wesens ist
der Trieb nach Gewissheit außer uns
so groß geworden: 1) religiöser Weg 2)
wissenschaftlicher Weg 3) Hingebung an
Geld, Fürsten, Parteien, christliche Sekten usw.: welche wir fanatisch nehmen
müssen, also falsch verstehen müssen,
damit sie uns das Begehrte leisten. Die
Juden hatten diese Verachtung von sich und vom Menschen überhaupt!
Ziel: 1) die noch so
sehr sichergestellte Welt ist zuletzt einer individuellen Messung unterworfen: so lange wir forschen, können
wir das Individuum oft ausschließen: zu dem, was wir zuletzt finden, gibt es
immer eine subjektive Stellung! 2)
wir müssen stolz genug von uns denken, um eine subjektive Stellung nur zu
wirklichen Dingen einzunehmen, nicht zu Schemen! Und lieber den Zweifel und die
Meerfahrt ertragen als zu schnell Gewissheit wollen! 3) die Ehre der eigenen
Seele wieder herstellen! 38
Entscheidend ist der von mir hervorgehobene Satz: Die Juden hatten diese Verachtung von sich
und vom Menschen überhaupt!
Diesem Aphorismus kommt besondere Bedeutung zu, als er von
Nietzsches antisemitischer Schwester in der Zeitschrift Die Insel (1901, Nr.7, S.4)
zitiert und damit als besonders wichtig hervorgehoben wurde.
Kehren wir zu Chamberlain zurück. Es ist völlig
ausgeschlossen, dass Chamberlain ständig in einem Gefühlsüberschwang durchs
Leben schritt. Auch er hatte Tiefpunkte, wie Nietzsche, an dem sich dieses
Denken in Gefühlen besser beobachten lässt; dann fühlte er sich schwach und
erbärmlich oder böse, wenn die „Blase eingebildeter Macht“ platzte.
Aber auch diese Momente waren nicht vergeudet, erlaubten sie
es ihm doch, den eigentlichen Feind zu studieren, der dem Hochgefühl im Wege
stand, nämlich die Schwachen, die Erbärmlichen, die Juden. Wir alle wissen, wie
wir denken und fühlen, wenn wir nicht gut drauf sind. Wir verachten uns selbst
und die Menschheit, wir nörgeln, moralisieren, sind voller Ressentiments,
ungehalten, ja ausgesprochen böse. Dann gehören wir zur „erbärmlichen Rasse der
Juden“, dieser „Sklaven Gottes“, wie Nietzsche sie nannte. Wir sind dann aus den
Höhen des Ideals abgestürzt und ein „schäbiger Jude“ geworden. Nietzsches
Philosophieren zeigt: „die Starken“ und „die Schwachen“ sind keine
gesellschaftlichen Klassen, Stände oder Rassen, sondern Zustände des Denkers
selbst, der sich manchmal sehr stark und manchmal eben umso schwächer fühlt,
wie wir eigentliche alle, die wir ein dionysisches Rauschgefühl kennen. Auch Hitler stand im Bann von Nietzsches Philosophieren, wie
folgende Aufzeichnung von Goebbels, ebenfalls vom 13.5.1943, bezeugt:
Der Führer führt in
diesem Zusammenhang eine Unmenge von außerordentlich interessanten
Gesichtspunkten an. Er kommt noch einmal auf die Gegenüberstellung
Kant-Schopenhauer-Nietzsche-Hegel zu sprechen. Kant hält er für einen im
wesentlichen dynastisch gebundenen Philosophen. Schopenhauer ist der geborene
Pessimist, der mit einem ungeheuren Reichtum an Geist und Witz seine
philosophischen Gegner zu Paaren getrieben hat. Aber wenn Schopenhauer die Welt
als die denkbar schlechteste und den Menschen als das denkbar verächtlichste
Wesen ansieht, so hätte er eigentlich die Konsequenz daraus ziehen und, anstatt
dreizehn Bücher zu schreiben, sich selbst aus diesem Jammerdasein verdrücken
müssen. Das hat er nicht getan. Nietzsche
ist da der Realistischere und Konsequentere. Er sieht zwar die Schäden der Welt
und des menschlichen Geschlechts, aber er folgert daraus die Forderung des
Übermenschen, die Forderung eines gesteigerten und intensivierten Lebens.
Deshalb ist Nietzsche unserer Auffassung natürlich viel näher als Schopenhauer,
so sehr wir Schopenhauer im einzelnen schätzen mögen. Hegel ist ein durchaus
gebundener philosophischer Fürstendiener; er verdient, wie der Führer meint,
die harte und rücksichtslose geistige Stäupung, die er von Schopenhauer
erfährt. Der Pessimismus ist nicht ausreichend, um das menschliche Leben zu
bezwingen. Das menschliche Leben ist die Angelegenheit eines steten
Auslesekampfes. Wer nicht kämpft, wird dabei zugrunde gehen. Die Philosophie
hat nur die Aufgabe, das Leben zu steigern und zu vereinfachen, nicht aber, es
mit einem pessimistischen Schleier zu überlagern. (S. 290)
Hitlers Urteil über Kant überrascht, aber als
Chamberlain-Schüler wusste er, dass Kant nach dem Tod Friedrichs des Großen
unter dem Druck der Reaktion eine theologische Wende vollzog. Der große
Dialektiker Hegel findet keine Gnade; Leitbilder sind Schopenhauer und vor
allem Nietzsche. Ich habe die entsprechende Passage durch Fettdruck hervorgehoben. Aus deren Arsenal holten sich die Führer
des Dritten Reiches immer wieder Waffen gegen die christliche Religion.39
Damit ist die These, die sich seit den siebziger Jahren
immer mehr durchsetzte, dass es nämlich kaum Berührungspunkte zwischen
Nietzsche und Hitler gegeben habe,40 eindeutig widerlegt. Hitler versteht nicht nur das Symbolwort Übermensch richtig, sondern hat sogar
ein tiefes Verständnis des Verhältnisses von Nietzsche zu Schopenhauer und
damit von Nietzsches Philosophieren, dem es nicht um die Erklärung, sondern um
die Verklärung der Welt ging, um den Kampf gegen den Pessimismus und Nihilismus.
Auch Goebbels zeigte sich schon früh entschlossen,
Nietzsches Philosophie in Politik umzusetzen, wozu ihn späte Nietzsche-Texte
über die „große Politik“ ermächtigten.41
Politik ist in die
Realität übersetzte Weltanschauung. Die heutige Politik Europas ist die
Gestaltung der Weltanschauung Nietzsches. Und nur eins kann uns helfen: Den
Übermenschen suchen in uns und um uns. (23.12.1924)
Was ist am 13.5.1943 davon übrig geblieben? Als Resultat des
Ausleseprozesses erscheint die Vernichtung des Schwachen. Wer ist der Schwache?
Da fällt ein seltsamer Wandel auf. Schopenhauer war Hitlers Lieblingsphilosoph,
vom dem er ganze Passagen auswendig zitieren konnte.42 Noch wenige Monate zuvor hatte er sich voll und ganz zu diesem geistigen Vater
bekannt, trotz dessen „Art von Nihilismus“, wie er noch abschwächt.
Der Führer sieht... in
Schopenhauer eine Art von Nihilisten, den er aber sehr schätzt... (23.1.1943)
Am 13.5.1943 ist diese Solidarität brüchig geworden. Es
heißt nur noch: „so sehr wir ihn im einzelnen schätzen mögen“. Geradezu
ungeheuerlich aber finde ich folgendes Urteil über seine philosophische
Vaterfigur. Ich wiederhole:
Aber wenn Schopenhauer
die Welt als die denkbar schlechteste und den Menschen als das denkbar verächtlichste
Wesen ansieht, so hätte er eigentlich die Konsequenz daraus ziehen und, anstatt
dreizehn Bücher zu schreiben, sich selbst aus diesem Jammerdasein verdrücken
müssen. Das hat er nicht getan.
Offenbar gehört auch Schopenhauer am 13.5.1943 mit einem
Male wegen seines Pessimismus oder Nihilismus zu den Schwachen, die besser
zugrunde gehen sollten. Wer sind die Schwachen, wer sind die Pessimisten, die
zugrunde gehen sollen? Man wird antworten: die Juden.
Aber die Juden gelten selbst in Mein Kampf als zähe, lebensfähige Rasse.43 Warum sollte ausgerechnet diese starke Rasse plötzlich zu den Schwachen
gehören, deren Untergang erwünscht ist? Aber Hitlers Welt- und Menschenbild ist
wie das der germanischen Weltanschauung auf eine große Entscheidung, auf eine
welterschütternde Tat hin konzipiert; dazu noch einmal Chamberlain am Schluss
der Grundlagen.
Religion soll für euch
nicht mehr den Glauben an Vergangenes und die Hoffnung auf Zukünftiges
bedeuten, auch nicht (wie bei den Indern) eine bloße metaphysische Erkenntnis,
sondern die Tat der Gegenwart! Glaubt ihr nur an euch selber, so besitzt ihr
die Kraft, das neue „mögliche Reich“ wirklich zu machen; wachet auf, es nahet
gen den Tag. (942)
Chamberlain träumte wie Nietzsche von einem Wissen, welches
große Gefühle, ja eine große Tat unterstützen und nicht etwa hemmen soll. 44
Wenn aber kein Wissen mehr gelten soll, das der großen Tat eventuell in den Weg
treten und Bedenken erzeugen könnte, dann gibt es für einen solchen Gott oder
Übermenschen kein Gewissen
(conscientia) mehr, keine innere Opposition, keine innere Gewaltenteilung.
Deshalb kann ein den starken Willen unterstützendes Wissen auch niemals
statisch sein, sondern muss sich ständig verändern. Doch die Entscheidung, auf
die das „germanische Weltbild“ hin konzipiert war, war nichts weniger als der
große Krieg, den in erster Linie Hitler zu verantworten hatte, auch wenn er aus
ihm weder in Mein Kampf, noch in
seinen Reden einen Hehl machte.
Aus der „tiefsten Beklommenheit ängstlich drückender
Gedanken“, die in seltsamer Beziehung zu einem Blick auf die jüdische
Geschichte steht, lässt sich ein innerer Dialog erschließen, der schon in den
Anfängen von Hitlers politischem Denken und wohl noch später mutatis mutandis stattgefunden hat,
stattgefunden haben musste. Hitler hörte auch noch als Diktator, der keine
öffentliche Kritik mehr zu fürchten hatte, hin und wieder „in schwachen Momenten“
eine innere Stimme: „Lass ab von diesem Krieg! Wenn du diese Grenze
überschreitest, stürzt ganz Europa in ein Meer von Blut!“ Der so Angesprochene
wird mit den „Forschungsergebnissen“ seiner germanischen Weltanschauung
gekontert haben: „Jahrtausende lang hat eine ängstliche Menschheit im Glauben
an einen allmächtigen Gott zitternd und
zähneklappernd auf diese nur Bedenken machende Stimme gehört. Aber wir
sind heute aufgeklärt. Wir wissen, woher diese warnende Stimme gerade in diesem
Fall kommt: Nicht von einem inneren Dämon, wie noch Sokrates glaubte, sondern
von dem einzigen Volk, das bislang friedlich überlebt hat. Ich werde diesen
gefährlichen Irrglauben, man könne sich so feige durch die Jahrtausende
hindurchschmuggeln wie die Juden, endgültig auslöschen, notfalls mit militärischer
Gewalt.“ Damit wäre der Judenmord vorprogrammiert. Aber der Hinweis
auf die „schwachen Momente des Führers“ zeigt einen anderen Aspekt: Zu den
Schwachen, die zugrunde gehen sollen, zählt Hitler selbst. Aber dann wäre zu
erklären, warum er sich dessen nicht bewusst wird. Zur Erklärung dient die in
meinem Nietzsche-Buch entwickelte Theorie des zweiten Bewusstseins. Wer täglich der
reinen, der höheren Rasse angehören will, braucht ein Feindbild, das ihn wie
ein Schatten immer begleitet. Um an einem Schein von Identität festzuhalten,
wird dieser Übermensch die jeweils ganz andere Position des „Untermenschen“ mit
einem einheitlichen Begriff bezeichnen, obwohl darunter konkret sehr
Verschiedenes, ja Gegensätzliches gemeint war. Hitler sieht sich immer als
Feind des „Juden“, obwohl darunter zunächst ein konsequenter Pazifismus, später
jedoch Kriegstreiberei gemeint war, also absolute Gegensätze.
Aber wie stellen wir uns das Zerbrechen der Identität vor?
Wenn sich Hitler und Goebbels am 13.5.43, also nach der
Kapitulation von Stalingrad, noch immer an die Vorstellung von deutscher
Weltherrschaft klammern, dann bestimmen sie die deutsche Überlegenheit durch
den Blick nach unten, auf einen „Untermenschen“, den Juden.
In seiner berühmten Rede im Sportpalast hat Goebbels noch vom
wilden Willen des Deutschen gesprochen, der jeden Widerstand bricht. Und indem
Hitler am 13.5.43 den „Kampf gegen den Juden“ – ob darunter nun eine
propagandistische Kampagne oder das Morden oder beides zu verstehen ist, tut in
unserem Zusammenhang nichts zur Sache – als ein Mittel ansah, doch noch am Ziel
deutscher Weltherrschaft festhalten zu können, kam ihm das Realitätsprinzip
abhanden. Es war, schlicht gesagt, ein Irrtum zu meinen, „die Juden“ hätten vor
Hitler die Weltherrschaft inne gehabt. Die Führung des deutschen Reiches
tauchte in eine Wahnwelt ein. „Weltherrschaft der Juden“ könnte nämlich nur
heißen: „Weltherrschaft jüdischer Werte“, also des Dekalogs. Indem Chamberlain
diese um 1900 zumindest offiziell trotz des Imperialismus fast aller
christlicher Völker noch weltweit herrschenden Werte in einem historischen Rückblick
wieder auf „die Juden“ zurückführte, bereitete er den Reflexionskampf „des
Germanen“ und die „Ermordung Gottes“ vor. Solange Gott noch wie bei Kant „die
Menschheit“ bedeutete, konnte man ihn nicht buchstäblich ermorden. Denkbar
wurde der „Gottesmord“ erst, als man die geltenden Werte auf eine winzige
Minderheit zurückführte, die man entbehren zu können glaubte.
Nietzsche zeigt an
einer Stelle, wie man sich die „Ermordung des Realitätsprinzips“ konkret
vorstellen muss. Die geistige Potenz, die Selbstreflexion auszulösen droht,
wird verkleinert, damit sie überhaupt zu bekämpfen ist. Hinzu kommt, dass
Nietzsche und Hitler der bedrohlichen, ihr Hochgefühl hinab ziehenden Macht im
Zustand der Schwäche begegneten, so
dass die Verkleinerung schon in dieser „Erfahrung“ angelegt zu sein schien.
Also verwandelt sich der Geist der Schwere, der Teufel und Erzfeind, in einen
im Grunde lächerlichen Zwerg, der Zarathustra auf der Schulter sitzt und ihn
Topographie lehrt: „Zarathustra, du steigst, du wirfst dich hoch, aber jeder
hoch geworfene Stein muss fallen“. Zarathustra nimmt den Kampf mit dem Zwerg
auf, er will ihn totschlagen. Da erscheint die metaphysische Lehre der ewigen
Wiederkehr, die mit der Verabsolutierung des Augenblicks verbunden ist. Wenn
die Identität des Ichs sich in Augenblicke auflöst, bleibt nur die Hoffnung auf
deren Wiederkehr. (Za III, Vom Gesicht und Rätsel)
Ins Philosophisch-Psychologische übersetzt bedeuten diese
Metaphern: Eine Stimme gibt Zarathustra zu bedenken, jeder hochgeworfene Stein
müsse fallen, er selbst sei also nicht nur Übermensch, sondern auch
Untermensch, mit anderen Worten weder Übermensch, noch Untermensch, sondern
schlicht und einfach Mensch. Merkwürdig erscheint die Art der Auseinandersetzung
Zarathustras mit seinem „Teufel- und Erzfeind“, nämlich der Versuch, ihn totzuschlagen.
Dies ist der Wunsch nach Ermordung der Vernunft, des Intellekts, des Bewusstseins,
des Gewissens oder schlicht und einfach die Absicht, Gott zu ermorden.
Wenn aber die Weltherrschaft des Juden an bestimmte Werte gebunden
ist, woher nimmt Hitler denn die Gewissheit, die Herrschaft des Juden sei bald
zu Ende. Und was hat diese Gewissheit mit dem Judenmord zu tun? Nach Hitlers,
von Goebbels zitierter Feststellung, „es bleibt also den modernen Völkern
nichts anderes übrig, als die Juden auszurotten“, heißt es weiter:
Sie werden sich mit allen
Mitteln gegen diesen allmählichen Vernichtungsprozess zur Wehr setzen. Eines
dieser Mittel ist der Krieg. Wir müssen uns also darüber klar sein, dass wir in
dieser Auseinandersetzung zwischen der arischen Menschheit und der jüdischen
Rasse noch schwere Kämpfe zu bestehen haben, weil das Judentum es verstanden
hat, große Völkerschaften aus der arischen Rasse bewusst und unbewusst in seine
Dienste zu bringen. Jedenfalls meint der
Führer, dass das Judentum schon oft vor der absoluten Weltherrschaft gestanden
habe. Aber auch jedes Mal, wenn es nahe am Ziel war, erlebte es einen
Engelssturz, der es wieder auf die primitivsten Anfänge seines rassischen
Lebens zurückwarf. Das wird auch diesmal wieder der Fall sein... (288)
Das Wort „Engelssturz“ oder Sturz kommt in dieser Aufzeichnung
zweimal vor. Es liefert den Schlüssel zum Verständnis des zweiten Bewusstseins.
Es wäre sinnlos gewesen, Hitler nach historischen Daten zu fragen, wann denn
das Judentum schon kurz vor der absoluten Weltherrschaft gestanden habe, um
dann plötzlich wieder jäh abzustürzen. Es sind innerseelische Vorgänge, und
Hitler glaubt an die ewige Wiederkehr des Gleichen.
Doch inwiefern ist Hitler mit den Schwachen, mit den Pessimisten
identisch, und warum sieht er selbst diesen Zusammenhang nicht?
Die Abstraktionsfähigkeit seines Verstandes lässt diesen
„Übermenschen“ in oder hinter allen politischen Kräften, die ihm im Wege
stehen, ja hinter jedem Intellekt, der ihm überlegen ist, „den Juden“ sehen.
So konnte er jede Kritik an seiner Lehre oder seinem Vorgehen als
„frechen Judeneinwand" abtun,45 mit dem er sich nicht mehr auseinandersetzen musste. Was Hitler nicht verstand,
war zumindest „jüdisch beeinflusst“, so die ganze moderne Kultur46 und das Denken der Juristen.47 Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein so primitives Weltbild einerseits seine
„Selbstsicherheit“ erhöhte, andererseits aber einen hohen Preis hatte, weil
die „jüdische Weltversschwörung“ ständig an Macht und Einfluss gewann. Ein
normales menschliches Bewusstsein hätte sich selbstkritisch gegen die eigene
Verstandestätigkeit gewandt: „Vielleicht täusche ich mich“, vielleicht steckt
doch nicht der Jude hinter all diesen Erscheinungen?“ Hier käme ein innerer
Dialog in Gang. Hitler kennt diesen Zweifel an der eigenen Theoriebildung
nicht, die ja letztlich zu seiner Verdüsterung, zu „tiefster Beklommenheit
ängstlich drückender Gedanken“ (s. o.) führt: „Das Judentum steht wieder (kurz)
vor der absoluten Weltherrschaft.“ Warum hält Hitler den Pessimismus seiner
Theoriebildung aus? Weil sich gegen die Verdüsterung ein zweites Bewusstsein
bildet, das aus den Trieben entsteht, aus dem Sexualtrieb, aus dem
Aggressionstrieb, aus bloßen Gefühlen. Es kommt jedenfalls aus dem Körper, aus
der Physiologie, daher die große Bedeutung des Rassebegriffs in dieser
Weltanschauung. Es ist der Wille Zarathustra, den auf seinen Schultern
sitzenden Zwerg totzuschlagen. Der Reflexionskampf des „körperlich stärkeren
Germanen“ mit dem „geistig und moralisch überlegenen Juden“ ist das Grundmodell
des Kampfes zweier „Bewusstseine“,48 sagen wir, zweier Bewusstseinssysteme, ihm entspricht Nietzsches Aufwertung der
Barbaren, „neuer Barbaren“ oder der „Barbaren
des 20. Jahrhunderts“.49
Wenn also Hitler den Intellekt als „jüdisch“ und zugleich als
abgrundtief verlogen verwirft, dann kann er zwar als Übermensch seine
intellektuelle Unterlegenheit durch die Anmaßung seiner moralischen
Überlegenheit über alle Untermenschen kaschieren, weil er sich selbst als
wahrhaftig fühlt, aber es stellt sich die Frage, mit welchen Waffen seine
Triebe über alle Instanzen siegen werden, die sich der Enthemmung der Triebe
normalerweise entgegenstellen, also über den Intellekt, das Gewissen etc. Und
da gibt es nur eine mögliche Antwort: Die Philosophie der Triebe mündet in die
Vorstellung der Vernichtung oder Ermordung aller Gegenkräfte, führt zur
Ermordung der Vernunft.
Man wird einwenden, ein nur von Affekten gesteuerten Wesen sei in der
menschlichen Gesellschaft isoliert, die Vorstellung eines bloßen Tieres an der
Spitze eines Staates also damit absurd.
Natürlich konnten Nietzsche und Hitler auch denken, reflektieren. Und
wir können gerade im oben zitierten Tagebucheintrag von Goebbels leichter als
in Nietzsches Philosophieren die Entstehung einer solchen Reflexion verfolgen.
Nietzsches ungewöhnliche Sprachkraft ist bekannt. Hitler hat als
begabter Redner seine Zuhörer packen können. Er hat sich auf seinen
Veranstaltungen bis zur körperlichen Erschöpfung verausgabt; und in der Begegnung
des männlichen Führers mit der „weiblichen“ Masse schwang etwas Sexuelles mit.
Im Bann des zweiten Bewusstseins traut er sich zu, mit seiner eigentlichen
Kraft, mit der sein Wille zur Macht sich durchgesetzt hatte, mit seiner
rhetorischen Fähigkeit und seiner demagogischen Propaganda, der er seinen
Aufstieg an die Macht verdankte, den „Engelssturz“ des Juden herbeizuführen. Er
will also mitten im totalen Krieg die unbesiegten Engländer gegen die Juden
aufhetzen und so den Juden vernichten. Damit hat er den Boden der Realität
verlassen. Doch je näher zuvor der Jude am Ziel der absoluten Weltherrschaft
war, desto gewaltiger werde Hitlers Schlag, der den „Engelssturz“ herbeiführt.
Und wenn Hitler sich als Subjekt des zweiten Bewusstseins fühlt, als der
Vernichter der Schwachen, wird ihm nicht
bewusst, dass er doch nur den Inhalt seines ersten Bewusstseins vernichtet, das
Produkt seiner eigenen Verstandestätigkeit, also sein eigenes pessimistisches
Weltbild, als er die Juden kurz vor ihrem Ziel der Erringung der Weltherrschaft
sah, zumal er sein Weltbild gar nicht als solches erkennt, sondern bar
jeglicher Selbstreflexion für die objektive Wahrheit hält. Dazu gibt es in
Nietzsche Philosophieren eine Entsprechung: Kaum ein Interpret hat bemerkt,
dass er im Antichrist und im Ecce homo nicht das Christentum, sondern
seine eigene mittlere Zarathustra-Philosophie vernichtet, als er der Wahrheit
selbst den Glauben gekündigt hatte.
Wer hätte das gedacht? Ein Aufstand der Triebe zielt gegen (den)
jüdischen Gott und trifft menschliches Bewusstsein. Wie können Triebe gegen den
Geist rebellieren? Wie können ausgerechnet die Empfindungen, die uns immer
wieder foppen und täuschen, den Wert der Wahrheit usurpieren? Ich kann hier
Nietzsches „Philosophie der Triebe“ nicht ausführlich darstellen. Aber in
Hitlers oben zitierter Ausführung ist ein Bild seines zweiten rebellischen Bewusstseins
versteckt: der Urmensch, der nur elementare Gefühle artikulieren kann. Sobald
der hemmungslose Propagandist Hitler seine, wie er meinte, echten und wahren
Gefühle in Worte fasste und Gott, den Allmächtigen, anrief, produzierte er
Lügen. Er selbst war der Erzlügner, den er mit glühendem Hass verfolgte, auch
wenn diese These einem auf die Grammatik fixierten Denken völlig absurd
erscheint.
Trotzdem möchte ich versuchen, dieses Paradox einigermaßen
plausibel zu machen.
Hitlers Macht beruhte auf seinem demagogischen Talent. Das
heißt nicht, dass die Deutschen so einfältig gewesen wären, alles zu glauben,
was er von sich gab. Aber Hitler galt als authentisch, was auch die Studie von
Martynkewicz (S.394ff.) wieder
bestätigte. Man nahm Hitler ab, dass er im Gegensatz zu anderen Politikern der
Weimarer Republik selbst hinter seinen Worten stand, dass er selbst felsenfest
an das glaubte, was er verkündete. Nun taucht da ein Problem auf. Der große Demagoge
verdankt seine Wirkung seiner Anpassungsfähigkeit. Hitler hatte ein Gespür, was
er wo und wann sagen musste, was gut ankam. Er musste also seinen Zuhörern nach
dem Munde reden. Aber dann steht die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit in neuem
Licht da. Kann er dann wirklich von allem, was er zu verschiedenen
Gelegenheiten sagt, ganz und gar überzeugt sein? Merkt da nicht mancher früher
oder später eklatante Widersprüche?
Hinter dem am 13.5.1943 angedeuteten Plan, durch eine
geschickte Propagandarede die unbesiegten Engländer von seinem eigentlichen
Kriegsziel der Judenvernichtung zu überzeugen, verbirgt sich auch die
wahnwitzige Hoffnung, die Angelsachsen gewissermaßen in letzter Minute aus der
Front der Feinde herausbrechen zu können, um sich mit ihnen gemeinsam der
kommunistischen Bedrohung entgegen werfen zu können. Dabei müssten „die
jüdischen Verbrechen rücksichtslos angeprangert werden.“ (290) Was würde also Hitler in dieser großen
Propagandarede sagen? Der Krieg zwischen den Deutschen und Engländern, diesen
beiden arischen Völkern, sei ein Missverständnis, er habe ihn nie gewollt,
dieser Krieg gehe auf jüdische Bankiers zurück.
Was ist hier passiert? Solange die Stimme des Gewissens nur
im Innern sprach, konnte Hitler sich vorstellen, sie gewaltsam zum Verstummen
zu bringen. Aber wenn er die Engländer durch eine Propagandarede überzeugen
will, wird die Gewissensinstanz wieder nach außen verlegt, sie verkörpert sich
in einem Publikum, das er gewinnen muss. Er steht gewissermaßen der
Weltöffentlichkeit gegenüber, und damit einer Macht, die er mit physischer
Gewalt nicht bezwingen konnte. Hier gelten andere Regeln, andere Werte. Die
Weltöffentlichkeit könnte einen Eroberungskrieg niemals billigen. Also stellt
Hitler sich um; er wird nach seinem Selbstverständnis plötzlich ein Pazifist,
dem der Krieg aufgezwungen wurde.
Wenn dieses Forum ihm jetzt glaubte, dann bliebe seine
Position als Übermensch unangetastet. Wenn man ihm, was natürlich eintreten
wird, nicht glaubt, dann hat nach seiner Vorstellung die Weltverschwörung der
Untermenschen unter jüdischer Führung gesiegt. Warum das Mistrauen gegen den
Übermenschen aus der jüdischen Mentalität stammen soll, hat eine lange
Vorgeschichte. Ich könnte auf Chamberlain50 verweisen, aber auch auf Nietzsche.51 Doch ist kaum zu erwarten, dass Hitler diese komplizierten Zusammenhänge immer
bewusst waren. Es ist viel einfacher: Wenn man ihm seine Judenhetze nicht
abnimmt, ist dies für ihn der eklatante Beweis für den Sieg der Juden über ihn,
den Übermenschen. Dies zeigt, wie er sich immer tiefer in seinen Antisemitismus
verstrickt. Hat Hitler also in seinem politischen Testament von 1945 gelogen?
Wie kann er die „jüdische“ Verdächtigung, selbst ein infamer Lügner zu sein,
widerlegen? Wie kann er also doch noch über „die Juden“ triumphieren? Als
großer Demagoge kennt er nur einen Weg zur Macht; er muss zuerst sich selbst
von seiner kühnen These überzeugen, denn dies ist die Voraussetzung dafür, auch
bei anderen Glauben zu finden. Also bleibt ihm nur ein Weg übrig: Er selbst
muss sich selbst von den jüdischen Verbrechen überzeugen.52 Nur dann bleibt er in seinem inneren System, für sich selbst, der Urmensch, der
gar nicht lügen kann.
Nehmen wir an, dieser Akt der Selbsterschaffung gelänge.
Wäre Hitler damit löwenstark, weil er scheinbar souverän festsetzt, was
Wahrheit ist? Oder wäre er erbärmlich schwach, weil er dann die Verantwortung
für seine Verbrechen nicht übernehmen könnte? Was ist stark und was ist schwach,
wo ist oben und wo ist unten? Jedenfalls wird auch dieser Zarathustra, wenn er
sich hochwirft, wieder fallen, wie ein Stein. Dann erfasst ihn erneut die
tiefste „Beklommenheit ängstlich drückender Gedanken“, die ihn schon immer mit
dem Blick auf die jüdische Mission erfasste.
Wie lässt sich also der Kampf der Triebe gegen das Gewissen,
gegen den Intellekt, gegen die Vernunft zusammenfassend beschreiben? Die
geistigen Potenzen setzen dem Ansturm aus der Triebschicht zunächst keinen
Widerstand entgegen, aber man könnte mit einer gewissen Genugtuung ihre späte
Rache registrieren, wenn sie das aus den Affekten heraus argumentierende
Individuum mit Verblendung schlagen. Dennoch wäre Schadenfreude unangebracht,
denn der Geist verliert in diesem Kampf aufs Messer seine göttliche Würde und
seine Heil bringende Wirkung; er vergrößert das Chaos und verschlimmert die
Verbrechen. 6. Von Nietzsche zu Hitler
oder die Bildung einer kollektiven Wahnidee Zwar sind Hermann Rauschnings Gespräche mit Hitler mit äußerster Vorsicht zu genießen. Trotzdem
möchte ich eine oft zitierte Passage wiedergeben:
Wir stehen am Ende des
Zeitalters der Vernunft. Der selbstherrlich gewordene Geist ist eine Krankheit
des Lebens geworden.
Unsere Revolution ist
nicht bloß eine politische und soziale, wir stehen vor einer ungeheuren
Umwälzung der Moralbegriffe und der geistigen Orientierung des Menschen.
Mit unserer Bewegung
ist erst das mittlere Zeitalter, das Mittelalter abgeschlossen.
Wir beenden einen
Irrweg der Menschheit.
Die Tafeln vom Berge
Sinai haben ihre Gültigkeit verloren.
Das Gewissen ist eine
jüdische Erfindung. Es ist wie die Beschneidung, eine Verstümmelung des
menschlichen Wesens.
Eine neue Zeit der
magischen Weltdeutung kommt herauf, der Deutung aus dem Willen und nicht dem Wissen.
Es gibt keine
Wahrheit, weder im moralischen noch wissenschaftlichen Sinne...53
Nochmals: dieser Text stammt nicht von Hitler, dazu ist er
viel zu intellektuell, zu wenig demagogisch. Hitler hat zumindest als Redner
niemals darauf verzichtet, den Wert der Vernunft für sich zu reklamieren. Sagen
wir, er ist gut erfunden. Er gibt Gedanken wieder, die mehr als hundert Jahre
vor allem unter Deutschen kursierten, und die ich unter dem Begriff einer religiösen
Revolution gegen (den jüdischen) Gott zusammenfasste. Und die geistige
Revolution führte zu Taten. Nietzsche raunt vom Gottesmord, er fordert die
Vernichtung der Kranken und Schwachen, während er, an anderer Stelle
durchblicken lässt, die Kranken und Schwachen hätten mehr Geist. (KSA 13/365) Dazu kommt,
dass er die europäische Moral auf den Sklavenaufstand
in der Moral zurückführt, der mit den Juden begonnen habe. (JGB 195) Auch Aggressionen gegen den Geist
werden schon erwähnt. Zarathustra setzt dazu an, einen Zwerg totzuschlagen, der
ihm der Schulter sitzt, seinen Teufel und Erzfeind, den „Geist der Schwere“.
Diese religiöse Revolution hat in einer Tübinger Studentenkneipe (Nr.13) die
Geburt einer neuen, nationalen Religion eingeleitet, und sie hat selbst die
Religiosität zersetzt.54
Wer war der erste religiöse Revolutionär?
Es führt kein Weg daran vorbei, dass Kant in seiner Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten den inneren Prozess, der im Gewissen
stattfindet, so beschreibt: Das Ich ist der Angeklagte und der Ankläger. Es ist
aber auch der Gesetzgeber und schließlich auch der Richter.55 Damit wird das Ich zum
unkontrollierbaren Diktator, weshalb die religiöse Revolution nicht zufällig in
eine Diktatur führt.
Nicht alle Teilnehmer an der religiösen Revolution waren
Antisemiten, schließlich waren auch Juden an diesem Aufstand beteiligt, die wie
Kantorowicz sogar Hitler gefolgt wären, wenn dieser sie nur akzeptiert hätte. (Nr.11)
Warum haben sich die Ideen eines sehr schwer verständlichen
Denkers wie Kant in Deutschland so leicht durchgesetzt, dass der Boden für eine
nationale rechte Diktatur vorbereitet war, für eine kollektive Wahnidee? Diese
Philosophie beruht auf der Grammatik, so dass sie fast als selbstverständlich
erscheint, als hätten wir sie im Blut. Im Deutschen kann ich - im Gegensatz zum Italienischen,
Spanischen, Lateinischen und Griechischen - keinen Satz bilden, ohne ein
grammatikalisches Subjekt. Und wenn Kant deshalb einen Prozess schildert, der
sich im Gewissen, also im Innersten abspielt, verdrängt das Ich jede andere Instanz: Ich
werde angeklagt, ich klage an, ich verteidige mich, ich gebe das Gesetz, ich richte mich. (§ 13) Nicht Naturwissenschaftler, sondern die Philosophen der
Metaphysik der Grammatik sind die eigentlichen Revolutionäre gegen Gott, der
jetzt im Gewissen nicht mehr vorkommt. Aber mit Gott verschwindet auch der
Andere, der Nächste, dessen Bedeutung für die Selbstreflexion Nietzsche in
seiner mittleren Phase durchaus gesehen hat.56 Selbst Kant war in der Tugendlehre
kein Dialektiker mehr; es muss bezweifelt werden, ob er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. (Nr.14) Und in Nietzsches Philosophieren tritt
eine dramatische Zuspitzung auf. Wer ständig um sich her die Wüste wachsen
sieht, erkennt zwar das Rettende auch, selbst wenn es sich zuletzt, wenn
niemand mehr da ist, niemals jemand da gewesen zu sein scheint, als Fata
Morgana erweist.
In einer absurd frühen
Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches
Wort erreichen würde. (KSA 297)
Es gibt in Nietzsches Philosophieren eine Entsprechung zu
Hitlers prinzipieller Feindschaft gegen den Intellekt: seine These von der
„Verfälschung des Bewusstseins“. Das Bewusstsein wird der Mitteilung zugeordnet
und damit der Herde.57 Kein Philosoph hat wie Nietzsche das Bewusstsein in Frage gestellt, so dass dem
Übermenschen oder Ausnahmemenschen in seiner „Philosophie des Leibes und der
Affekte“ keine Möglichkeit zur Selbstreflexion blieb.
Fragt man nach dem
wichtigsten Gedanken, der Hitler und Nietzsche verbindet, stößt man auf den
Mythos des Übermenschen, welcher die Vernichtung der Schwachen und Missratenen
impliziert, denn nur ein Ausnahmemensch, der sich nicht selbst manchmal schwach
und missraten fühlt, kann Gott ersetzen wollen. Und dieser Mythos ist schon in
Nietzsches Jugendschriften angelegt. In einem Aufsatz Über Stimmungen vom April 1864 – Nietzsche war damals noch Schüler
der Pforte, also ganz sicher noch nicht syphilitisch infiziert – zeichnet sich
bereits die spätere Methode ab, unangenehmen Stimmungen durch einen Willensakt
von seiner Person abzuhalten, ja von sich abzuspalten; dass auch er sich hin
und wieder von unangenehmen Stimmungen berühren lasse, erklärt er aus seiner
Neugierde, auch Fremdpsychisches erleben zu wollen. Damit ist die schon in
Kants religiöser Revolution gegen (den jüdischen) Gott angelegte Philosophie
des Übermenschen angedeutet, der auf die Schwachen herabsieht, ja sie sogar
vernichten will.
Aber es ist wundersam; nicht die Gäste (die Stimmungen) kommen, weil
sie wollen, oder nicht die Gäste kommen, wie sie sind; sondern es kommen die,
welche müssen, und nur eben die, welche müssen. Alles, was die Seele nicht
reflektieren kann, trifft sie nicht; da
es aber in der Macht des Willens steht, die Seele reflektieren zu lassen
oder nicht, trifft die Seele nur das, was sie will. Und das scheint vielen
widersinnig; denn sie erinnern sich, wie sie sich gegen gewisse Empfindungen
sträuben. Aber was bestimmt schließlich den Willen? Oder wie oft schläft der
Wille und nur die Triebe und Neigungen wachen! Eine der stärksten Neigungen der Seele aber ist eine gewisse
Neubegierde, ein Hang nach dem Ungewohnten, und aus diesem erklärt sich, warum
wir oft uns in unangenehme Stimmungen versetzen lassen... 58
Aus dieser seltsamen Analyse, mit der schon die spätere
Position gegen die Vielen, gegen die Menge aufgebaut wird, entwickelte sich
später die Absicht, „der Mensch eines hohen Gefühls, die Verkörperung einer
einzigen großen Stimmung“ zu werden.59 Damit ist die Identität des Ichs gesprengt. Da Nietzsche auch die Reue und die
Gewissensqual nach der Tat als „üble Empfindung“ oder als „Schmerz“
behandelt, (8/339) die der Mensch der hohen Stimmung hinter oder besser unter
sich zu lassen habe,60 ist damit auch der Immoralismus in seiner Philosophie der Affekte angelegt.
Wäre somit nicht Kants Philosophie des Ichs als notwendige
Gegenposition gegen Nietzsches Irrationalismus und Immoralismus voll und ganz
gerechtfertigt? Mit einer Einschränkung: Kant hätte an Stelle des
umgangssprachlichen Begriffs Ich besser
ein Kunstwort verwendet, wie z.B. das lateinische individuum (als Entsprechung zum griechischen atomon), um Logik und Moral rein philosophisch zu begründen. Denn
das Wort Ich bezeichnet immer einen
Gegensatz zu allen anderen, ist somit schon an und für sich ein Signal für den
unmoralischen „Willen zur Macht“, wie aus folgender Aufzeichnung Nietzsches
hervorgeht:
... Kaum klingt es jetzt glaublich, dass etwas
Entgegengesetztes auch als gut gelten will und gegolten hat – „ich“ mehr und
stärker sagen als die gewöhnlichen Menschen, sich selber gegen sie
durchzusetzen, sich stemmen gegen jeden Versuch, uns zum Werkzeug und Gliede zu
machen, sich unabhängig machen, auf die Gefahr hin, die Anderen sich zu
unterwerfen oder zu opfern... damit „der Mensch“ höher, mächtiger, fruchtbarer,
kühner, ungewöhnlicher und seltener werde – damit die Menschheit an Zahl
abnehme und an Wert wachse.“ KSA 9/411f.
Nietzsche hätte niemals so souverän mit Worten jonglieren
können, wenn er nicht selbst in schwachen Stunden der Magie der Worte erlegen
wäre, wie hier dem Wort Ich; denn wer
immer anderes als andere, immer den anderen überlegen sein will, unterdrückt
vieler Seiten seines Charakters, nämlich die „Herdentugenden“: Die Sehnsucht
nach Entspannung, nach Harmonie mit anderen etc.
Mit einem neutralen Kunstbegriff wie individuum hätte sich kein Denker so stark wie Nietzsche mit dem
Wort Ich identifiziert; die Fixierung
auf die lateinische Sprache hätte auch nicht die nationalistischen
Missverständnisse aufkommen lassen, die ich im 14. Aufsatz aufzeigte.
Die starke Betonung des Ichs brachte Nietzsche zunächst in
eine Position, in der er als Aristokrat das „Vorurteil der Moral“, das
Christentum, die Demokratie, die Wissenschaft und die Logik als plebejisch verwarf.61 Nun kann man einwenden, Nietzsche habe vor allem in der letzten Phase seines
Philosophierens die Logik und die Wissenschaft auch ganz anders gesehen,
nämlich als Ausdruck der Macht der „größten Abstraktionskünstler“. (12/237) Das beste Zeugnis dieses Wandels sei
der Antichrist, wo er mit dem Pathos
leidenschaftlicher Entrüstung dem
Christentum vorwarf, die in der Antike erarbeiteten Fundamente der
Wissenschaft vernichtet zu haben. (AC 59) Man
könnte sagen, Nietzsches Aufregung komme einige Jahrhunderte zu spät, da sich die
Wissenschaft um 1900 längst etabliert hatte. Woher also diese aus tiefster
Verzweiflung ausbrechende Leidenschaft? Aus der Erkenntnis, dass Nietzsche
selbst noch wenige Jahre zuvor einen extrem wissenschaftsfeindlichen Standpunkt
vertreten hatte, den er bereits in seiner ersten Schrift, in der Geburt der Tragödie, eingenommen hatte.
Genau in diesem Schwanken liegt nämlich das Problem.
Interpreten, die Nietzsches Zerrissenheit als Zeichen geistiger Größe sehen,
sollten sich in den Denker hinein zu versetzen versuchen. Als Nietzsche in der
Euphorie des Turiner Herbstes im Bann seines zweiten „physiologischen“
Bewusstseins die moralischen und logischen Kategorien, wie Wille, Ziel, Sinn,
Ursache-Wirkung, Wahrheit usw. plötzlich „entdeckte“, war er aus der Sicht
seiner mittleren Philosophie, in der er alle diese Kategorien geleugnet hatte,
zur Herde zurückgekehrt, war also gescheitert. Da er aber diese bisher der
Herde zugeordneten Begriffe jetzt im Rausch einer dionysischen Sinnlichkeit,
der immer nur wenige „große“ Augenblicke anhalten konnte, als Beweise der Macht
mächtiger Abstraktionskünstler deutete, erlag er zeitweise der von Giorgio
Colli entdeckten „Halluzination von einer wundersamen Konvergenz“. (s. o.) Dann
meinte er, seine Philosophie, die es
wegen ihrer Widersprüche gar nicht gibt, habe sich allgemein durchgesetzt. Er
sei also nicht gescheitert, sondern habe im Gegenteil auf ganzer Linie gesiegt.
Da sich beide Deutungen immer wieder ablösten, endete Nietzsches Philosophieren
in einer heilloser Verwirrung, die durch eine inkonsequente, gewissermaßen nur
gefühlte Selbsterkenntnis, als Philosoph des Jenseits von Gut und Böse und des
Jenseits von Wahr und Falsch gescheitert zu sein, nur verstärkt wurde.
Nietzsches gegen alle moralischen und erkenntnistheoretischen
Begriffe gerichtete Philosophie der Zarathustra-Einsamkeit im Jenseits aller
Werte entspricht Hitlers Kriegstreiberei, die unter dem Motto stand: „Der
Starke ist am mächtigsten allein“, wie das achte Kapitel des zweiten Bandes vom
Mein Kampf überschrieben ist. Hitlers
Versuch, sich nach dem Scheitern des Blitzkriegs vor der Weltöffentlichkeit zu
rechtfertigen, entspricht Nietzsches Hinwendung zur modernen Wissenschaft im Antichrist, die er zuvor so
kompromisslos bekämpft hatte. In beiden Fällen wird die eigene Fehlentscheidung
mit großer moralischer Empörung einem Feind aufgebürdet, dem Christentum, das
die antike Wissenschaft ruiniert habe, oder den Juden, die den Zweiten
Weltkrieg ausgelöst hätten. Ausführlich habe ich in Nietzsche
kontra Nietzsche das Muster einer Selbstauflösung im Wahn zu entwickeln
versucht, indem ich mich, Nietzsches eigener Erkenntnistheorie folgend, von der
in diesem Fall nur sprachlich gegebenen Illusion des Subjekts frei machte. In
Nietzsches Philosophieren wuchs ein „zweites Bewusstsein“, wie er selbst
feststellte.
Aber dieses Buch kam zur falschen Zeit; die philosophische
Mode hatte gewechselt und die akademische Philosophie war gerade dabei, die
„Philosophie der Grammatik“ wieder zu entdecken.
Die Theorie des zweiten Bewusstseins bedeutet nicht, dass
sich alle deutsche Schuld jetzt auflöste. Eher ist das Gegenteil wahr. Kants
Spätphilosophie, die germanische Weltanschauung und auch Nietzsches
Philosophieren hätten schon vor Hitlers Aufstieg einer philosophischen Kritik
unterzogen werden müssen.
Aber Gralshüter des deutschen Geistes haben geistige
Fehlentwicklungen nicht nur nicht korrigiert, sondern noch verschlimmert. Denn
Nietzsche, der erst durch seinen „geistigen Zusammenbruch“ den literarischen
Durchbruch erzielte, galt lange Zeit nur als brillanter Stilist und
geistreicher Psychologe. Seine permanente Widersprüchlichkeit hat derart
abgestoßen, dass man ihn als Denker nicht ernst nahm. Erst Karl Jaspers hat ihn
mit seinem 1936 erschienenen Nietzsche-Buch in den Rang eines großen Denkers
erhoben, indem er mit seiner Autorität als Psychiater erklärte, vor dem
27.12.1888 fänden sich keine Spuren von Wahnsinn in Nietzsches Denken. (S.77) Als ob ein solches Ereignis ohne
Vorankündigung urplötzlich über Nacht hereinbrechen könnte!62 Und zum Umgang mit den Widersprüchen rät er:
Die Aufgabe der
Interpretation ist jedenfalls, die Widersprüche in allen Gestalten aufzusuchen,
nirgends zufrieden zu sein, wo man nicht auch
den Widerspruch gefunden hat und dann vielleicht diese Widersprüche in ihrer
Notwendigkeit zu erfahren. (8/9)
Ein kritischer Umgang mit Nietzsches Philosophieren war dann
nicht mehr möglich. „Philosophische“ Nietzscheinterpreten lassen anstößige
Stellen, wie die Forderung nach Vernichtung der Schwachen und Lebensmüden oder
die kühne These vom „Sklavenaufstand in der Moral“, der mit den Juden begonnen
habe, einfach weg. Selbst die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgte
„Kritische Gesamtausgabe“ reicht nicht aus, um alle gravierenden Fehler der
bisherigen Nietzsche-Rezeption zu beheben, weil darin nämlich die Jugendschriften
fehlen. Nur sie belegen, dass sich bedenkliche Züge in Nietzsches Denken schon vor der ungesicherten
Syphilis-Infektion, die auf seine Studentenzeit in Bonn oder Leipzig angesiedelt
wird, nachweisen lassen.
Infiziert war Nietzsche aber schon als Schüler der Pforte
vom Grundgedanken der religiösen Revolution, den er wohl Feuerbachs Schrift Das Wesen des Christentums entnahm. So
schrieb er im April 1862:
Nur christliche
Anschauungsweise vermag derartigen Weltschmerz63 hervorzubringen, einer fatalistischen liegt er sehr fern. Es ist nichts als ein
Versagen an eigener Kraft, ein Vorwand der Schwäche, sich mit Entschiedenheit
selbst sein Los zu schaffen. Wenn wir erst erkennen, dass wir nur uns selbst
verantwortlich sind, dass ein Vorwurf über verfehlte Lebensbestimmung nur uns,
nicht irgend welchen höhern Mächten gelten kann, dann erst werden die
Grundideen des Christentums ihr äußeres Gewand ablegen und in Mark und Blut
übergehen. Das Christentum ist wesentlich Herzenssache; erst wenn es sich in
uns verkörpert hat, wenn es Gemüt selbst in uns geworden ist, ist der Mensch
wahrer Christ. Die Hauptlehren des Christentums sprechen nur die
Grundwahrheiten des menschlichen Herzens aus; sie sind Symbole, wie das Höchste
immer nur ein Symbol des noch Höheren sein muss. Durch den Glauben selig werden
heißt nichts als die alte Wahrheit, dass nur das Herz, nicht das Wissen,
glücklich machen kann. Dass Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, dass
der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der
Erde seinen Himmel gründe; der Wahn einer überirdischen Welt hatte die
Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht: er war
das Erzeugnis einer Kindheit der Völker. Die glühende Jünglingsseele der
Menschheit nimmt diese Ideen mit Begeisterung hin und spricht ahnend das
Geheimnis aus, das zugleich auf der Vergangenheit in die Zukunft hinein
wurzelt, dass Gott Mensch geworden. Unter schweren Zweifeln und Kämpfen wird
die Menschheit männlich; sie erkennt in sich „den Anfang, die Mitte, das Ende
der Religion.“. BAW 2/63
Hier zeigt sich noch unter christlicher Tarnung die
Auflösung des Christentums, die Ersetzung des Himmelreichs durch das
Erdenreich, die Verdrängung des Glauben an einen Gott durch das fühlende Ich,
das bereits physiologisch, also rassisch bestimmt wird, (verkörpert, Mark und Blut) und die Abwertung des Wissens
zugunsten eines mächtigen Gefühls. Auch der spätere Immoralismus kündigt sich an,
wenn auch verschämt, und zwar in der „Erkenntnis“, „dass wir nur uns selbst verantwortlich
sind“.
Damit hat der achtzehnjährige Denker mit großer
Selbstständigkeit in philosophischen Vorbildern seine Grundgedanken gefunden,
die er wie Leitmotive oder Leidmotive variierte, bis hin zur letzten Aufzeichnung
in seinen Notizen, in denen er sich bereit erklärt, als neuer Gott die Welt zu
regieren. (KSA 13/646) Wer aber den
Himmel schon auf Erden erleben will, muss seine depressiven Stimmungen von
seinen Hochgefühlen abspalten und ausschalten.
1 Ein weiteres
Beispiel: Der bedeutende evangelische Adolf von Harnack war nicht nur ein
Anhänger, sondern sogar ein Freund Chamberlains. Dennoch hat er dessen
Antisemitismus nicht übernommen. Vgl. Brief an von Harnack vom 9.12.1912, in H.
St. Chamberlain, Briefe I, (München 1928) S.212 - 218.
2 Theodor W.
Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M 1977, S.5. Über
Antisemitismus in den USA vgl. den Roman Brennpunkt
(Focus) von Arthur Miller, der um 1943 in den USA spielt. Adorno streift in
seiner Schrift ganz nebenbei eine amerikanische Eigentümlichkeit. In vielen
Kirchen oder Sekten darf, bedingt durch die enge Verbindung von Religion und
Geschäft, die Ausbildung der Prediger nicht viel kosten. Es genügt, wenn sie
sich in der Bibel auskennen. Das Resultat ist der bekannte christliche
Fundamentalismus, der leicht antisemitische Züge annehmen kann. Diese
religiösen Kreise sind auch meist glühende Verfechter der Groß-Israel-Idee, in
der stillen Hoffnung, die amerikanischen Juden mögen sich dorthin verziehen,
was natürlich biblisch umschrieben wird: Der Messias könne erst kommen, wenn
sich die Juden im Heiligen Land versammelt hätten. Die meisten allerdings
Amerikaner hielten ein christliches Amerika für eine Katastrophe.
3 Detlev
Claussen, Grenzen der Aufklärung, Frankfurt/M. 1987, S.68.
4 Insofern sind die Versuche, den Hitlerschen
Antisemitismus auf das Christentum, die christliche Theologie oder allgemein
auf die Religion zurückzuführen, absurd. Hiermit meine ich Werke wie Erich
Voegelin, Die politischen Religionen 1938. (Weitere Werke bis 1977), Dolf
Sternberger, Drei Wurzeln der Politik 1978,
Jacob Katz, Vom Vorurteil bis
zur Vernichtung, Jerusalem 1980 (1989), Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf
Hitler, Anatomie einer politischen Religiosität, 1989, Claus-Ekkehard Bärsch,
Die politische Religion des Nationalsozialismus 1998. Von diesem Werk wird noch
die Rede sein. Das berühmteste Beispiel für diese Fehldeutung, also für die
Herleitung der Katastrophe aus der Theologie und nicht aus der Philosophie, ist
Thomas Manns missglückter Roman Dr.
Faustus. Ich werfe Thomas Mann vor, in diesem Roman zwar unbewiesene
Legenden aus Nietzsches Vita auszuschlachten wie die syphilitische Ansteckung,
aber keinen einzigen Gedanken Nietzsches auch nur zu erwähnen, weder den Willen
zur Macht, noch den Übermenschen oder Herrenmenschen. Leverkühn ist Theologe
und Musiker, aber kein Philosoph. Auch der Teufel ist ein „gebildeter
Theologe“. Die deutsche Philosophie wird jedenfalls geschont und nicht mit dem
Teufelspakt in Verbindung gebracht. Von Nietzsche, dem Künstlerphilosophen, kam
Thomas Mann zeitlebens nicht los.
5 Ähnlich
haben der junge Hegel und Feuerbach die idealistische Philosophie mit der
christlichen Religion verschmolzen und so Antisemitismus erzeugt. Vgl. Dieter
Just, Das gestörte Weltbild (3.2), (4.3)
6 Vgl. 8.
Aufsatz Psychologie der Weltanschauungen.
7 Aber schon
Fichte hat den „Dogmatisten oder Dogmatiker“ (Suche Dogmatist oder Dogmatiker im 1. Aufsatz auf dieser Website) mit
Spinoza und damit mit „dem Juden“ in Verbindung gebracht.
8 Vgl. vor
allem sein Werk Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998
9 Mein Kampf
(1935), S.630f.
10 Kant, Der
Streit der Fakultäten A 79
11 Adolf
Hitlers Geheimrede vom 23.11.1937, Dr. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im
Führerhauptquartier, Stuttgart 1976, S.483f.
12 Brief
an König Ferdinand von Bulgarien vom 11.12.1919, Briefe Bd. II, S.108
13 Die Theorie
der politischen Religion sieht nicht tief genug, wenn sie an den Stellen hängen
bleibt, wo Hitler von seinem Glauben
spricht. Er meint den Willen. Wenn er
stattdessen oft „der Glaube“ sagt, ist dies eine Verfälschung durch das
Mitteilungsbedürfnis. Siehe Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft 354.
14 Dr. Henry
Picker, Hitlers Tischgespräche, 8.2.1942, S.105
15 Ich zitiere
aus Goebbels Aufzeichnungen zum 13.5.1943 nach der Ausgabe, Die Tagebücher von
Joseph Goebbels, hg. Elke Fröhlich, Teil II, Bd.8 mit Seitenangaben.
16 Am
24.2.1943, Domarus, Bd.IV, S.1992
17 Hitler,
Sämtliche Aufzeichnungen 1905 - 1922, Hrsg. Eberhard Jäckel, Stuttgart 1980,
Nr. 360, S.571ff.
18 Dass der
Wille zur Vernichtung die Argumente ersetzte, lag in der weiteren Entwicklung
der Philosophie der Subjektivität oder der Innerlichkeit, in der bloße Gefühle
immer stärker dominierten. Man vergleiche dazu Nietzsches
„Vernichtungsphantasien“. Dieter Just, Nietzsche kontra Nietzsche (5.14). Und
Nietzsche war vielleicht von Dührings Schrift Der Wert des Lebens beeinflusst. Dieter Just, Die Schattenseite des
Idealismus, (8.1), Anm.6
19 Eine
Wendung, die in Sämtlichen Aufzeichnungen,
die oben zitierte Stelle abgerechnet, vier Mal vorkommt, nämlich S.279, S.361,
S.377 und S.517, außerdem zweimal in Mein
Kampf (1935), nämlich S.335 ausdrücklich und S. 253, wo Schopenhauer zwar
eindeutig gemeint ist, aber nicht ausdrücklich erwähnt wird. Wenn er ihn hier
„einen der größten Geister der Menschheit“ nennt, wird seine Hochachtung für
diesen Philosophen deutlich.
20 Dieter
Just, Das gestörte Weltbild (10.2)
21 Nun findet
sich bei Luther Ähnliches; dieser hat zwei Schriften über die Juden
geschrieben, eine judenfreundliche „Das Jhesus Christus eyn geborener Jude sei“
(1523) und eine sehr stark antisemitische, in der mit Ausnahme der physischen
Vernichtung fast alle judenfeindliche Maßnahmen der Nationalsozialisten vorweggenommen
werden, nämlich „Von den Jüden und jren Lügen“ (1543). So lag es nahe, Hitlers
Antisemitismus von Luther abzuleiten. Allerdings konnte ich in Das gestörte Weltbild (S.110f.)
nachweisen, dass Chamberlain, als er Die
Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts verfasste, von Luthers
Antisemitismus nichts gewusst hat. Dasselbe gilt für den frühen Hitler. Vgl.
Adolf Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1905 – 1924. Auch wenn der Redner Luther
manchmal seinen Respekt bezeugt, war der Reformator für den Katholiken Hitler
keine Autorität.
22 Vgl. 14.
Aufsatz auf dieser Website Das
„auserwählte Volk“ der Philosophie: Suche: große Meister im Lügen.
23 12. Aufsatz
auf dieser Website, Suchworte Ulrich Sieg,
sowie Ungeziefer.
24 „Europa
leidet an einigen, einer früheren Daseinsepoche angehörenden und aus dieser
zurückgebliebenen, der Entwicklung als Nationen unfähigen Völkern, den
Zigeunern, den Basken, den Iren, den Juden.“ (Ausgewählte Schriften, München
1924, S.201.) Daraus zieht er den Schluss, Juden hätten kein Recht, sich in
Deutschland politisch zu betätigen. Vgl. 12. Aufsatz auf dieser Website,
Suchwort: ubi bene.
25 Reden,
Schriften, Anordnungen, III/2, Dok.21, S.189.
26 Mein erstes
Buch zum Thema enthält zwar eine Fülle richtiger Beobachtungen. Aber es gelang
mir nicht, daraus eine plausible Theorie zu entwickeln, weil ich meinen
Übervater Kant noch nicht zu entthronen wagte.
27 Seine Scheu
vor Diskussionen zeigte sich darin, dass er von Anfang an auf Gewalt setzte. So
trat er nie ohne seine SA auf, deren Aufgabe darin bestand, unliebsame
Zwischenrufer zu greifen, zu isolieren und übel zuzurichten.
28 Mayer, Arno
J. Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die
„Endlösung“, Hamburg 1989, aus dem Amerikanischen 1988
29 Joseph
Goebbels, Tagebücher 1945, (Peter Stadelmayer), Hamburg 1977, S.550ff.
30 Adolf
Hitler, Mein politisches Testament, in Joseph Goebbels, Tagebücher 1945, Hrg.
Peter Stadelmayer, Hamburg 1977, S.551ff.
31 Die
sozialdemokratischen Dialektiker, an denen Hitler scheiterte, waren nicht immer
Juden im strengen Sinn des Wortes, wie aus dem Sprachgebrauch von Mein Kampf eindeutig hervorgeht. Jude
ist ein Synonym für Intellektueller.
32 Dieser
Auflösungsprozess taucht, soweit ich sehe, erstmals in Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen auf, und
zwar am Ende des 2. Buches Wissen:
„Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir noch in mir, sondern nur einen
unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von
meinem eigenen....“ Im 2. Buch Wissen
will Fichte den Rang, welchen in jenem
Lehrgebäude jede ursprüngliche Naturkraft einnimmt,...selbst einnehmen. (6.
Aufsatz). Er will, simpel ausgedrückt, Gott werden.
33 Nietzsche,
Fröhliche Wissenschaft 125
34 Nietzsche,
Zarathustra IV, Der hässlichste Mensch.
35 Zarathustra
II, Auf den glückseligen Inseln
36 Chamberlain, „Katholische“ Universitäten, in: Rasse und Persönlichkeit, München 1925, S.59f.
37 Hrg. Von
der Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Leitung von Paul van Tongeren,
Gerd Schank und Herman Siemens, Berlin 2004
38 Nietzsche,
KGW V 7(256)
39 Hier nur zwei Beispiele aus Goebbels Tagebüchern:
„Der Führer ist ein ganz auf die Antike ausgerichteter Mensch. Er hasst das
Christentum, weil es alles edle Menschentum verkrüppelt hat. Christentum und
Syphilis haben nach Schopenhauer die
Menschheit unglücklich und unfrei gemacht. Welch ein Unterschied zwischen einem
gütig und weise lächelnden Zeus und einem schmerzverzerrten gekreuzigten
Christus. Auch die Gottesanschauung selbst ist bei den antiken Völkern viel
edler und menschlicher als beim Christentum. Welch ein Unterschied zwischen
einem düsteren Dom und einem hellen, freien antiken Tempel.“ (8.4.1941)
„Der Führer lässt sich scharf
gegen die Wissenschaft aus, die keine Phantasie hat. Auch die Philosophie
bekommt ihr Teil ab, die vor der letzten Konsequenz zurückschreckt. Nur Nietzsche macht hier eine Ausnahme. Er
weist im Einzelnen die Absurdität des Christentums nach. In 200 Jahren wird es
nur noch eine groteske Erinnerung darstellen. Wir müssen ihm allmählich auf
allen Gebieten das Wasser abgraben..“. 30.1.1941
40 1972
erschien der erste Band der Nietzsche-Studien.
Der erste Aufsatz darin stammt von Josef Simon und trägt den Titel Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis
Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition. Und
der erste Satz lautet: „Der wachsende zeitliche Abstand lässt Nietzsches
Philosophie deutlicher in ihrer inneren Struktur erkennen. In dem Maße, in dem
mit der historischen Distanz eine weltanschaulich orientierte Ausbeutung oder
Ablehnung zurücktritt, erscheint das Philosophische in ihr, das sie mit der
Tradition europäischen Philosophierens verbindet.“ Die entscheidende Frage, die
man sich bis in die sechziger Jahre durchaus stellte, (Georg Lukács, Ernst
Sandvoss) nämlich ob und wie sich Hitler von Nietzsche inspirieren ließ, wird
nicht beantwortet, sondern wegen des „wachsenden zeitlichen Abstands“ einfach
überhört. Also kann man zur Tagesordnung übergehen, als ob nichts Schlimmes
geschehen wäre.
41 KSA
13/637f.; Vgl. Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 1; Dazu Goebbels in den
Tagebüchern (Elke Fröhlich) „Nachts Nietzsche gelesen „Ecce homo“. Ein toller
Antichrist. Aber erfrischend deutlich und manchmal sogar wahr. Sogar heute noch
eine Kampfansage.“ (27.12.1931)
42 Hitlers Tischgespräche
im Führerhauptquartier (Dr. Henry Picker) S.122
43 „Bei kaum
einem Volke der Welt ist der Selbsterhaltungstrieb stärker entwickelt als beim
sogenannten auserwählten. Als bester Beweis hierfür darf die einfache Tatsache
des Bestehens dieser Rasse allein schon gelten. Wo ist das Volk, das in den
letzten zweitausend Jahren so wenigen Veränderungen der inneren Veranlagung,
des Charakters usw. ausgesetzt gewesen wäre als das jüdische? Welches Volk
endlich hat größere Umwälzungen mitgemacht als dieses – und ist dennoch immer
als dasselbe aus den gewaltigsten Katastrophen der Menschheit hervorgegangen?
Welch ein unendlich zäher Wille zum Leben, zur Erhaltung der Art spricht aus
diesen Tatsachen.“ Mein Kampf (1935) S.329
44 „Zunächst
ist Wissen etwas rein Gegenständliches, es bildet keinen Bestandteil der
wissenden Person; wird aber dieses Wissen ‚gestaltet’, so tritt es in das
Bewusstsein als dessen lebendiger Bestandteil ein und ist nunmehr ‚ein Zustand
unseres Subjektes’. Dieses Wissen kann ich jetzt von allen Seiten betrachten,
es gewissermaßen um- und umwenden. Das ist schon viel gewonnen, sehr viel. Doch
es kommt noch mehr. Ein Wissen, das ein Zustand meines Ich geworden, betrachte ich nicht bloß, ich fühle es; es ist ein Teil meines Lebens:
‚mit einem Wort, es ist zugleich mein Zustand und meine Tat’. Wissen zu Tat
umwandeln! Die Vergangenheit so zusammenfassen, nicht dass man mit hohler,
erborgter Gelehrsamkeit über längst verscharrte Dinge prunke, sondern dass das
Wissen von dem Vergangenen eine lebendige, bestimmende Kraft der Gegenwart
werde.“ Grundlagen 1003. Sofort fällt einen Nietzsches Über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ein. Hier eine
Parallele aus Nietzsches Schriften:
„Wer die Geschichte der Menschen insgesamt als eigne Geschichte zu fühlen weiß, der
empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung sehr viel Gram. Aber wer diese
ungeheure Summe von Gram aller Art tragen könne, wer dies alles in einer Seele haben und in ein Gefühl zusammendrängen könne, der
müsse doch ein bisher ungekanntes göttliches Gefühl genießen.“ (FW 337)
Eine Vorahnung dieses Ideals findet sich in den Jugendschriften: „Sobald es
aber möglich wäre, durch einen starken Willen die ganze Weltvergangenheit
umzustürzen, sofort träten wir in die Reihe unabhängiger Götter, und Weltgeschichte
hieße dann für uns nichts als ein träumerisches Selbstentrücktsein; der Vorhang
fällt, und der Mensch findet sich wieder, wie ein Kind mit Welten
spielend...“ HISTORISCH-KRITISCHE
GESAMTAUSGABE der Werke von H.J.Mette, Karl Schlechta, 1933-1940, Nachdruck
München 1994, 2/58f. Vergl. 4/31. Zuletzt schreitet auch Nietzsche „zur Tat“.
Vgl. seine Texte zur „großen Politik“, die den NS-Propagandisten und
Philosophieprofessor Alfred Baeumler faszinierten: „Nietzsche hat eine neue Art
zu philosophieren eingeführt. Seine eminente schriftstellerische Begabung ermöglicht
es ihm, zugleich zu denken und seine Philosophie in die Tat umzusetzen.“
Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, S.163
45 "Hier
freilich kommt der echt judenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand des
modernen Pazifisten: "Der Mensch überwindet eben die Natur!" Mein
Kampf, S.314
46 RSA III/1,
S.308, Dok. 61 (3.12.1928)
47 Dr.
Henry Picker, Hitlers Tischgespräche S.158
48 Hier zeigt
sich, wie meine Gedanken der Logik der Sprache widersprechen.
49 KSA 10/659,
11/520f./ 13/18.
50 Vgl. der harte
unlösbare Kern der sogenannten „Judenfrage“ im 14.Aufsatz
51 Vgl. feine Skepsis im 2. Aufsatz
52 Dieser Realitätsverlust zeigte sich schon bald. So
glaubte Hitler in Mein Kampf, England
und Italien als Bundesgenossen für seinen Krieg um neuen Lebensraum gewinnen
zu können. (700) Im Falle Englands war
er sogar bereit, auf eine Neuauflage der Flottenpolitik des Kaiserreichs und
auf Kolonien in Übersee zu verzichten. Dennoch hatte sein Werben keinen Erfolg.
Es scheiterte bekanntlich am Grundsatz der Balance of power. Deutscher Macht- und Raumgewinn in Osteuropa
hätte das Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent gestört und war deshalb
für die Briten nicht akzeptabel. Hitler scheint diese Schwierigkeiten geahnt
zu haben, denn für den Fall des Scheiterns seiner Bemühungen um ein Bündnis mit
der großen „arischen“ Seemacht hat er bereits damals eine Erklärung parat. In
diesem Falle wäre der Einfluss des deutschfeindlichen Finanzjudentums in
England so stark, dass die britische Politik ihre eigentlichen Interessen,
die für ein Bündnis mit Hitlerdeutschland sprächen, nicht wahren könne. (702)
53 Hermann
Rauschning, Gespräche mit Hitler, unveränderte Neudruck, Zürich 1940, S.210
54 Kriegsbetbüchlein, Nr. 12
55 Vgl. numero idem im 14. Aufsatz
56 „... Den
Anderen begreifen und auf uns von ihm aus
hinzusehen ist unentbehrlich für den Denker.“ KSA 9/265; vgl. auch 9/169
57 Vom „Genius
der Gattung“, Fröhliche Wissenschaft 354
58 Friedrich
Nietzsche, Jugendschriften, Hrsg.: Hans Joachim Mette, dtv 1994, BAW 2/407
59 Fröhliche
Wissenschaft 288.
60 Vgl.
„Inwiefern auch unser Gewissen, mit seiner anscheinend persönlichen
Verantwortung, doch noch Herden-Gewissen ist“ und „Der Gewissensbiss wie alle Ressentiments
bei einer großen Fülle von Kraft fehlend (Mirabeau, B.Cellini, Cardanus)“ KSA
12/153
61 KSA 12/98,
12/155, 12/191
62 Dazu
Giorgio Colli im Nachwort zum 6. Band der KSA: „Das ist der Punkt, an dem
Nietzsche den Kontakt zur Realität verliert... Er ... erliegt der Halluzination
von einer wundersamen Konvergenz. Er phantasiert, dass für sein Denken, für
seine Person nunmehr die Zeitgemäßheit anbreche – aber darin ist er bereits
nicht mehr zurechnungsfähig. Und diese Trübung betrifft nicht nur die letzten
Tage, unmittelbar vor dem Zusammenbruch, sondern den ganzen Turiner Herbst.
Ende September 1888 spricht Nietzsche – nach Vollendung des Antichrist – von einem „Gesetz wider das
Christentum“ und den Augenblick, in dem er dieses Gesetz erlässt, bezeichnet er
als Beginn einer neuen Ära der Weltgeschichte. Es handelt sich um eine
politische Euphorie...“ KSA 6/452f. Das „Gesetz wider das Christentum“ findet
sich in KSA 6/254
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